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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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rätselhaft – alle vierzig Arbeiter und Techniker waren Freie, mit ordentlichem Verdienst, und sie brauchten kaum so etwas wie Fleischkonserven. Selbst wenn diese Konserven märchenhaft teuer gewesen wären – verkaufen konnte man sie nirgends im tiefen endlosen Wald. Die »Bären«variante wurde auch sofort ausgeschlossen, denn in der Küche war nichts vom Platz gerückt. Man konnte meinen, dass es jemand absichtlich getan hatte, »aus Erbitterung« über den Koch, in dessen Zuständigkeit die Lebensmittel der Küche fielen; allerdings bestritt der Koch, ein gutmütiger Mensch, dass sich unter seinen vierzig Kameraden ein Feind verberge und gegen ihn, den Koch, Gemeinheiten begehe. Wenn aber auch diese Vermutung falsch war, blieb noch eine weitere. Und zur Überprüfung eben dieser letzten Vermutung nahm der Einsatzleiter Kassajew zwei der flinkeren Arbeiter mit, bewaffnete sie mit Messern und steckte selbst die einzige Feuerwaffe ein, die es in der Außenstelle gab – ein Kleinkalibergewehr –, um die Umgebung zu untersuchen. Die Umgebung bestand aus grau-braunen Bergschluchten, ohne jede Spur von Grün, die auf ein großes Kalksteinplateau führten. Und die Geologensiedlung lag gewissermaßen in der Senke, am grünen Ufer eines Flüsschens.
    Das Geheimnis war schnell enträtselt. Nach etwa zwei Stunden, als sie in Ruhe das Plateau erstiegen hatten, streckte einer der Arbeiter, der scharfsichtigere, den Arm aus – am Horizont bewegte sich ein Punkt. Sie liefen am Rand des nachgiebigen jungen Tuffs, des jungen Gesteins, das noch nicht versteinert war und an weiße Butter erinnerte, von widerlich salzigem Geschmack. Der Fuß blieb darin stecken wie im Sumpf, und wenn die Stiefel eintauchten in dieses halbflüssige, ölartige Gestein, waren sie wie mit weißer Farbe bedeckt. Am Rand entlang zu laufen war leicht, und nach anderthalb Stunden hatten sie den Mann eingeholt. Der Mann trug die Reste einer Steppjacke und zerrissene wattierte Hosen, die die Knie unbedeckt ließen. Beide Hosenbeine waren abgeschnitten – um daraus Schuhe zu machen, inzwischen vollends zerfetzte und zerschlissene. Mit derselben Absicht waren zuvor schon die Jackenärmel abgeschnitten und abgetragen worden. Seine Lederschuhe oder Gummi
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waren längst an Steinen und Ästen abgestoßen und offensichtlich weggeworfen.
    Der Mann war bärtig, behaart und blass von unerträglichem Leiden. Er hatte Durchfall, entsetzlichen Durchfall. Elf vollkommen intakte Konservengläser lagen bei ihm auf den Steinen. Ein Glas war an einem Stein aufgeschlagen und schon gestern vollständig ausgegessen.
    Er war seit einem Monat unterwegs nach Magadan, drehte sich im Wald im Kreis wie ein Ruderer im dichten Nebel auf dem See, und lief aufs Geratewohl, ohne jede Orientierung, drauflos, bis er auf die Außenstelle stieß – als er schon völlig geschwächt war. Er fing Feldmäuse und aß Gras. Bis zum gestrigen Tag hatte er sich gehalten. Schon gestern hatte er ein Rauchfähnchen bemerkt, die Nacht abgewartet, die Konserven an sich genommen und war bis zum Morgen auf das Plateau gekrochen. Aus der Küche hatte er Streichhölzer mitgenommen, aber die Streichhölzer brauchte er gar nicht zu benutzen. Er hatte von den Konserven gegessen, und der schreckliche Durst, der ausgetrocknete Mund zwangen ihn, durch eine andere Schlucht bis an den Bach hinunterzusteigen. Und dort trank er, er trank das kalte leckere Wasser. Am nächsten Tag war sein Gesicht aufgeschwemmt, und die beginnende Darmverstimmung trug die letzten Kräfte davon.
    Er war froh über jedes Ende seiner Reise.
    Ein anderer Flüchtling, den die Fahnder aus der Tajga in dieselbe Außenstelle geschleppt hatten, war irgendeine wichtige Person. Er war an einer Gruppenflucht aus dem benachbarten Bergwerk beteiligt gewesen, einer Flucht mit Raub und Mord am Bergwerkchef selbst – und war der letzte der zehn Geflohenen. Zwei hatte man getötet, sieben gefangengenommen, und den letzten erwischte man also am einundzwanzigsten Tag. Schuhe hatte er nicht, die aufgesprungenen Fußsohlen bluteten. In der Woche hatte er, nach eigenen Worten, nur ein winziges Fischchen aus einem ausgetrockneten Bach gegessen, ein Fischchen, das er mehrere Stunden geangelt hatte, kraftlos vor Hunger. Sein Gesicht war aufgedunsen und blutleer. Die Begleitposten kümmerten sich sehr um ihn, um seine Diät, seine Genesung – sie mobilisierten die Feldscher der Außenstelle und befahlen ihnen strengstens, sich um den Flüchtling zu

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