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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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kümmern. Der Flüchtige verbrachte im Badehaus der Siedlung ganze drei Tage, und schließlich wurde er, geschoren, rasiert, gewaschen und satt, von der Operativgruppe zur Untersuchung gebracht, deren Ausgang nur die Erschießung sein konnte. Dem Flüchtling selbst war das natürlich klar, aber er war ein erfahrener, gleichgültiger Häftling, der schon längst jene Grenze des Lebens in Haft überschritten hatte, an der der Mensch zum Fatalisten wird und »sich treiben lässt«. Um ihn herum waren all die Zeit Begleitposten, Wachsoldaten, und ließen ihn mit niemandem sprechen. Jeden Abend saß er auf der Vortreppe des Badehauses und betrachtete den gewaltigen kirschroten Sonnenuntergang. Das Feuer der Abendsonne rollte in seinen Augen, und die Augen des Flüchtlings sahen brennend aus – ein sehr schöner Anblick.
    –
    In einer der Siedlungen an der Kolyma, in Orotukan, steht ein Denkmal für Tatjana Malandina, und der Klub in Orotukan trägt ihren Namen. Tatjana Malandina war Vertragsarbeiterin, eine Komsomolzin, die in die Klauen krimineller Flüchtlinge geraten war. Sie beraubten sie, vergewaltigten sie – so ein abscheulicher Ganovenausdruck – »im Chor« und töteten sie ein paar hundert Meter von der Siedlung, in der Tajga. Das war 1938, und die Leitung verbreitete umsonst das Gerücht, dass »Trotzkisten« sie getötet hätten. Aber eine Verleumdung dieser Art war allzu absurd und empörte sogar den Onkel der getöteten Komsomolzin – Leutnant Malandin, einen Lagermitarbeiter, der nun nach dem Tod seiner Nichte sein Verhältnis zu den Ganoven und den anderen Häftlingen radikal veränderte: er hasste die ersten und gewährte den zweiten Vergünstigungen.
    Diese beiden Flüchtigen wurden gefasst, als ihre Kräfte zu Ende gingen. Anders verhielt sich ein Flüchtling, der von einer Gruppe Arbeiter auf einem Pfad in der Nähe von Erschließungsschurfen aufgegriffen wurde. Den dritten Tag fiel ununterbrochen Landregen, und einige Arbeiter hatten Segeltuchkleidung übergezogen, Jacken und Hosen, und waren nachschauen gegangen, ob nicht vom Regen das kleine Zelt gelitten hätte – die Küche mit Geschirr und Lebensmitteln und die Feldschmiede mit Amboss, Esse und einem Vorrat von Bohrwerkzeug. Küche und Schmiede standen im Bett eines Bergbachs, in einer Klamm – etwa drei Kilometer vom Wohnort.
    Die Bergflüsse treten bei Regen sehr stark über die Ufer, und irgendwelche Kapriolen des Wetters waren zu erwarten. Was die Leute allerdings vorfanden, versetzte sie in äußerste Verwirrung. Dort war nichts. Keine Schmiede war da, in der das Werkzeug für die Arbeiten eines ganzen Abschnitts lagerte – Bohrer, Vorbohrer, Hacken, Schaufeln, Schmiedewerkzeug; keine Küche war da mit den Lebenmittelvorräten für den ganzen Sommer; keine Kessel waren da, kein Geschirr – nichts. Die Klamm war neu – sämtliche Steine hatte das verrückt gewordene Wasser von irgendwo hierher gebracht und hingestellt. Alles Frühere war den Bach hinunter gefegt, und die Arbeiter folgten dem Bachufer bis zu dem Flüsschen, in das der Bach mündete, sechs, sieben Kilometer, und fanden kein einziges Stückchen Eisen. Viel später, als das Wasser gefallen war, fand man in der Mündung dieses Baches, am Ufer, in einem Weidenbusch, der im Sand versank, eine von den Steinen zerdrückte, umgestülpte, verdorbene Emailleschüssel vom Kantinengeschirr – und das war alles, was nach dem Gewitter, nach der Überschwemmung geblieben war.
    Auf dem Rückweg stießen die Arbeiter auf einen Mann in Kunstlederstiefeln, im durchnässten Regenmantel, mit einer großen Schultertasche.
    »Bist du ein Flüchtling, was?«, fragte Waska Rybin, einer der Gräbenausheber der Erkundung, den Mann.
    »Flüchtling«, antwortete der Mann halb bestätigend. »Ich würde mich gern trocknen …«
    »Komm mit zu uns – bei uns brennt der Ofen.« Bei Regen wurden im Sommer immer die Eisenöfen im großen Zelt geheizt – alle vierzig Arbeiter wohnten dort.
    Der Flüchtling zog die Stiefel aus, hängte die Fußlappen um den Ofen auf, zog eine Zigarettenbüchse aus Blech hervor, streute Machorka in einen Zeitungsfetzen und steckte sie sich an.
    »Wohin gehst du bei solchem Regen?«
    »Nach Magadan.«
    »Willst du essen?«
    »Was habt ihr denn?«
    Suppe und Perlgraupengrütze verführten den Flüchtigen nicht. Er band seinen Sack auf und holte ein Stück Wurst hervor.
    »Na, mein Freund«, sagte Rybin, »du bist kein echter Flüchtling.«
    Ein älterer Arbeiter, der

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