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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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stellvertretende Brigadier Wassilij Kotschetow, stand auf.
    »Wohin gehst du?«, fragte ihn Rybin.
    »Mich erleichtern.« Und er trat über das Brett – die Schwelle des Zelts.
    Rybin grinste.
    »So, mein Freund«, sagte er dem Flüchtigen, »jetzt pack deine Sachen und zieh, wohin du wolltest. Der«, sagte er über Kotschetow, »ist zur Leitung gerannt. Um dich festhalten zu lassen. Na, wir haben hier keine Soldaten, hab keine Angst, geh immer geradeaus. Hier, nimm dir Brot mit und ein Päckchen Tabak. Der Regen scheint auch nachgelassen zu haben, zu deinem Glück. Halt einfach auf die große Bergkuppe zu, dann gehst du nicht fehl.«
    Der Flüchtige wickelte schweigend die erst halb getrockneten Fußlappen mit dem trockenen Ende um die Füße, fuhr in die Stiefel, warf den Sack über die Schulter und ging.
    Zehn Minuten später wurde das Stück Segeltuch, das die Tür ersetzte, zurückgeschlagen, und die Leitung schob sich ins Zelt – der Einsatzleiter Kassajew mit einem Kleinkalibergewehr über die Schulter, zwei Vorarbeiter und Kotschetow, der das Zelt als letzter betrat.
    Kassajew stand schweigend, bis er sich an die Dunkelheit im Zelt gewöhnt hatte, und sah sich um. Niemand beachtete die Eingetretenen. Alle hatten zu tun – die einen schliefen, die anderen reparierten ihre Kleidung, dritte schnitten mit dem Messer irgendwelche wunderlichen Figuren aus Baumknorren – die üblichen erotischen Übungen, andere spielten mit selbstgemachten Karten »Bura« …
    Rybin stellte ein angeräuchertes Kochgeschirr aus einer Konservendose in die glühenden Kohlen im Ofen – seine eigene dicke Suppe.
    »Wo ist der Flüchtling?«, schrie Kassajew.
    »Der Flüchtling ist gegangen«, sagte Rybin ruhig, »hat seine Sachen genommen und ist gegangen. Hätte ich ihn halten sollen?«
    »Er war doch ausgezogen«, brüllte Kotschetow, »er wollte schlafen.«
    »Du wolltest dich doch auch erleichtern, und wohin bist du gelaufen im Regen?«, antwortete Rybin.
    »Gehen wir wieder«, sagte Kassajew. »Und du, Rybin, pass auf: Das wird kein gutes Ende nehmen …«
    »Was kannst du mir denn tun?«, sagte Rybin und trat an Kassajew heran. »Streit anfangen? Oder im Schlaf erstechen? Ja?«
    Einsatzleiter und Vorarbeiter gingen.
    Dies ist eine kleine lyrische Episode in der einförmig düsteren Erzählung von den Flüchtigen an der Kolyma.
    Der Chef der Außenstelle, beunruhigt von den ständigen Besuchen durch Flüchtige – drei im Lauf eines einzigen Monats, setzte sich umsonst bei den höchsten Instanzen dafür ein, in der Außenstelle einen Operativposten aus bewaffneten Wachsoldaten einzurichten. Solche Ausgaben wollte die Verwaltung für Freie nicht tragen und überließ es ihm, aus eigener Kraft mit den Flüchtigen fertigzuwerden. Und obwohl zu dieser Zeit zu Kassajews Kleinkalibergewehr in der Siedlung noch zwei doppelläufige Jagdluftgewehre angeschafft wurden und die Patronen dazu mit Bleistücken versehen wurden wie für Bären – war dennoch allen klar, dass bei einem Überfall von hungrigen und verzweifelten Flüchtlingen diese Patronen eine unzuverlässige Hilfe waren.
    Der Chef war ein erfahrener Bursche – plötzlich baute man in der Außenstelle zwei Wachtürme, genau solche, wie sie an den Ecken der echten Lagerzonen stehen.
    Das war eine scharfsinnige Tarnung. Die falschen Wachtürme sollten die Flüchtlinge glauben lassen, dass in der Außenstelle eine bewaffnete Wache sei.
    Das Kalkül des Chefs war offensichtlich richtig – die Flüchtigen besuchten diese Außenstelle nicht mehr, die nur zweihundert Kilometer von Magadan entfernt war.
    Als sich die Arbeiten am ersten Metall, das heißt am Gold, ins Tschaj-Urju-Tal verlagerten – nahmen Dutzende Flüchtlinge den Weg, den einst Kriwoschej gegangen war. Von hier aus war es am nächsten zum Festland, aber das wusste ja auch die Leitung. Die Zahl der »Geheimposten« und Einsatzposten wurde rapide vergrößert – die Jagd auf die Flüchtigen war in vollem Gange. Fliegende Einheiten durchkämmten die Tajga und vereitelten die »Befreiung durch den grünen Staatsanwalt« – so nannte man die Fluchten. Der »grüne Staatsanwalt« befreite immer weniger Leute, und schließlich befreite er niemanden mehr.
    Die Aufgegriffenen wurden gewöhnlich auf der Stelle getötet, und nicht wenige Körper lagen im Leichenhaus von Arkagala und warteten auf ihre Identifizierung – auf die Anreise von Mitarbeitern der Registratur zur Abnahme der Fingerabdrücke der Toten.
    Und zehn

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