Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Kilometer weit in den Wald vom Kohlebergwerk in Arkagala, in der Siedlung Kadyktschan, einem bekannten Ausgang von mächtigen Kohleflözen bis fast an die Oberfläche – die Schichten waren 8, 13 und 21 Meter mächtig –, lag so ein Einsatzposten, wo die Soldaten schliefen, aßen und überhaupt stationiert waren.
An der Spitze dieser fliegenden Einheit stand im Sommer 1940 der junge Gefreite Postnikow, ein Mann, in dem die Mordgier geweckt war und der seine Sache mit Lust, Eifer und Leidenschaft machte. Er persönlich hatte ganze fünf Flüchtige gestellt, irgendeine Medaille erhalten und, wie in solchen Fällen üblich, eine gewisse Belohnung in Geld. Die Belohnung gab man für Tote wie für Lebende in gleicher Höhe, so dass es keinerlei Sinn hatte, den Gestellten unversehrt zu übergeben.
Postnikow und seine Kämpfer waren an einem bleichen Augustmorgen auf einen Flüchtigen gestoßen, der zum Bach wollte, wo ein Hinterhalt war.
Postnikow schoss mit der Mauser und tötete den Flüchtling. Man beschloss, ihn nicht in die Siedlung zu schleppen und in der Tajga liegenzulassen – hier gab es viele Luchsund Bärenspuren.
Postnikow nahm ein Beil und schlug dem Flüchtling beide Hände ab, damit die Registratur die Fingerabdrücke nehmen konnte, legte beide toten Hände in seine Tasche und ging nach Hause – den anstehenden Bericht über die erfolgreiche Jagd schreiben.
Dieser Bericht wurde am selben Tag abgeschickt – einer der Kämpfer trug das Paket, den anderen gab Postnikow einen freien Tag zu Ehren seines Erfolges …
In der Nacht stand der Tote auf und folgte, die blutigen Armstümpfe an die Brust gedrückt, der Fährte aus der Tajga und erreichte irgendwie ein Zelt, in dem Arbeiter, Häftlinge wohnten. Mit weißem, blutleerem Gesicht, mit ungewöhnlich blauen irren Augen, stand er an der Tür, gebeugt, an den Türrahmen geklebt, und gab, finster dreinschauend, unartikulierte Laute von sich. Er schlotterte vor Kälte. Schwarze Blutflecke waren auf der Weste, den Hosen, den Gummi
tschuni
des Flüchtlings. Man gab ihm heiße Suppe zu trinken, wickelte seine schrecklichen Arme in irgendwelche alten Lappen und führte ihn zur Sanitätsstelle, ins Ambulatorium. Doch schon kamen aus der Hütte, wo der Einsatzposten wohnte, Soldaten gerannt, der Gefreite Postnikow selbst kam gerannt.
Die Soldaten führten den Flüchtigen irgendwohin – nur nicht ins Krankenhaus, nicht ins Ambulatorium –, und weiter hat von dem Flüchtling mit den abgehackten Händen niemand mehr etwas gehört.
Postnikow und sein ganzer Einsatzposten arbeiteten bis zum ersten Schnee. Mit den ersten Frösten, als die Suchaktionen in der Tajga weniger wurden, wurde diese Operativgruppe irgendwo von Arkagala wegverlegt.
Die Flucht ist eine große Probe auf den Charakter eines Menschen, seine Ausdauer, seinen Willen, seine physische und geistige Widerstandsfähigkeit. Mir scheint, für kein Winterlager, für keine Expedition ist es so schwer Kameraden zu finden, wie für die Flucht.
Dabei ist der Hunger, brennender Hunger, eine ständige Bedrohung für den Flüchtigen. Wenn man aber versteht, dass der Häftling eben vor dem Hunger flieht und also den Hunger nicht fürchtet, dann gibt es eine weitere vage Gefahr, die womöglich auf den Flüchtigen wartet – er kann von den eigenen Kameraden gegessen werden. Natürlich sind Fälle von Kannibalismus auf der Flucht selten. Dennoch gibt es sie, und mir scheint, dass jeder Kolymaveteran, der vielleicht ein Dutzend Jahre im Hohen Norden verbracht hat, schon Kannibalen begegnet ist, die ihre Haftstrafe eben für das Ermorden eines Kameraden auf der Flucht bekommen haben, für die Verwendung von Menschenfleisch als Nahrung.
Im Zentralkrankenhaus für Häftlinge befand sich lange Zeit der Kranke Solowjow mit chronischer Osteomyelitis des Beckens. Die Osteomyelitis – Knochenmarksentzündung – war nach einer Schussverletzung des Knochens aufgetreten, die Solowjow selbst gekonnt zum Eitern brachte. Solowjow, verurteilt für Flucht und Kannibalismus, »setzte« sich im Krankenhaus »fest« und erzählte gern, wie er und sein Kamerad bei der Vorbereitung auf die Flucht gezielt einen dritten einluden – »für den Fall, dass wir hungern müssen«. Die Flüchtigen liefen lange, etwa einen Monat. Als der dritte getötet und teils gegessen, teils »für den Weg« gebraten war, trennten sich die beiden Mörder – jeder hatte Angst, eines Nachts getötet zu werden.
Man kannte auch andere Kannibalen. Das
Weitere Kostenlose Bücher