Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
sind die allergewöhnlichsten Leute. Auf den Kannibalen liegt keinerlei Kainsmal, und solange man die Einzelheiten ihrer Biographie nicht kennt – ist alles gut. Und selbst wenn man das erfährt – wird es einen nicht anwidern, wird es einen nicht empören. Für Ekel und Empörung über solche Dinge fehlen einfach die physischen Kräfte, es fehlt einfach der Platz, wo derart feine Gefühle leben könnten. Außerdem ist auch die Geschichte der gewöhnlichen Polarreisen unserer Zeit von solchen Taten nicht ausgenommen – an den geheimnisvollen Tod des schwedischen Gelehrten Malmgren, Teilnehmer an der Expedition des Umberto Nobile, erinnern wir uns selbst. Und was soll man von einem hungrigen, gejagten Tiermenschen verlangen?
    Alle Fluchten, von denen erzählt wurde – sind Fluchten nach der Heimat, aufs Festland, Fluchten, um sich aus den Klauen der Tajga zu befreien, nach Russland zu kommen. Sie alle enden gleich – niemand kann den Hohen Norden verlassen. Das Misslingen dieser Art von Unternehmungen, ihre Aussichtslosigkeit und, auf der anderen Seite, die gebieterische Sehnsucht nach Freiheit, der Hass und der Ekel gegen die Zwangsarbeit, gegen die physische Arbeit, denn nichts anderes kann das Lager im Häftling heranzüchten. Am Tor jeder Lagerzone steht höhnisch geschrieben: »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums« – und der Name des Autors dieser Worte. Diese Aufschrift wird gemäß einem speziellen Rundschreiben gemacht und ist obligatorisch für jede Lagerabteilung.
    Diese Sehnsucht nach Freiheit also, dieser brennende Wunsch, im Wald zu sein, wo es keinen Stacheldraht und keine Wachtürme mit Gewehrkolben gibt, die in der Sonne funkeln, wo es keine Schläge, nicht die vielstündige schwere Arbeit ohne Schlaf und Erholung gibt – führt zu einer Flucht von besonderer Art.
    Der Häftling spürt, dass er verloren ist: noch ein, zwei Monate, und er wird sterben, so wie die Kameraden vor seinen Augen sterben.
    Er stirbt sowieso, und darum will er in Freiheit sterben, nicht im Bergwerk, nicht im Graben umfallen vor Müdigkeit und Hunger.
    Im Sommer ist die Arbeit im Bergwerk schwerer als im Winter. Das Sandwaschen fällt eben in den Sommer. Das nachlassende Hirn gibt dem Häftling einen Ausweg ein, wie er sowohl über den Sommer kommen als auch den Winteranfang im warmen Gebäude verbringen kann.
    So kommt es zum »Aufbruch ins Eis«, wie solche Fluchten »entlang der Trasse« bildhaft getauft wurden.
    Die Häftlingen fliehen zu zweit, zu dritt, zu viert in die Tajga in die Berge und richten sich in irgendeiner Höhle ein, einer Bärenhöhle – ein paar Kilometer von der Trasse entfernt, der gewaltigen Chaussee von zweitausend Kilometern Länge, die die gesamte Kolyma durchschneidet.
    Die Flüchtigen haben einen Vorrat von Streichhölzern, Tabak, Lebensmitteln und Kleidung – alles, was sie vor der Flucht sammeln konnten. Übrigens gelingt es fast nie, vorher etwas zu sammeln, und das würde auch Verdacht erwekken, würde den Plan der Flüchtigen vereiteln.
    Manchmal plündern sie in der Fluchtnacht das Lagergeschäft oder das »Lädchen«, wie man im Lager sagt, und gehen mit den geplünderten Lebensmitteln in die Berge. Meistens aber gehen sie ohne alles – zum »Äsen«. Dieses Äsen bedeutet keineswegs Gras, nicht Pflanzenwurzeln, Mäuse und Burunduks.
    Auf der gewaltigen Chaussee sind Tag und Nacht Fahrzeuge unterwegs, darunter viele Fahrzeuge mit Lebensmitteln. Die Chaussee liegt in den Bergen, ein ständiges Auf und Ab – passaufwärts kriechen die Fahrzeuge langsam. Auf ein Fahrzeug mit Mehl aufspringen, ein, zwei Säcke abwerfen – und man hat den Essensvorrat für den ganzen Sommer. Und es wird ja nicht nur Mehl transportiert. Gleich nach den ersten Plünderungen wurden bei Lebensmitteltransporten Begleitposten eingesetzt, doch man gab sie nicht jedem Fahrzeug mit.
    Neben der offenen Plünderung auf der großen Straße plünderten die Flüchtigen Siedlungen, die in der Nähe ihres Lagerplatzes lagen, und kleine Straßen-Außenstellen, wo zwei, drei Streckenwärter wohnen. Mutigere und größere Flüchtlingsgruppen hielten Fahrzeuge an und plünderten Passagiere und Ladung aus.
    Den Sommer über konnten sich solche Flüchtlinge, wenn sie Glück hatten, physisch und auch »geistig« erholen.
    Wenn sie vorsichtig waren mit den Lagerfeuern, die Spuren des Geplünderten sorgfältig verwischten, ihre Wachen aufmerksam und scharfsichtig waren

Weitere Kostenlose Bücher