Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
– hielten sich die Flüchtigen bis in den Spätherbst. Frost und Schnee trieben sie aus dem kahlen, ungemütlichen Wald. Espen und Pappeln verloren die Blätter, die Lärchen streuten ihre rostigen Nadeln auf das schmutzige kalte Moos. Die Flüchtlinge konnten sich nicht länger halten – und liefen hinaus an die Trasse, an die Chaussee, und ergaben sich am nächstgelegenen Operativposten. Sie wurden verhaftet und bekamen ein Verfahren, nicht immer schnell – der Winter hatte längst angefangen, man gab ihnen eine Haftstrafe für die Flucht, und – sie reihten sich ein unter die Arbeiter im Bergwerk, in dem sie (falls sie zufällig in dasselbe Bergwerk zurückkehrten, aus dem sie geflohen waren) ihre Brigade-Kameraden vom letzten Jahr schon nicht mehr antrafen – sie waren entweder tot oder als Halbtote in die Invalidenkompanien gekommen.
1939 wurden für die entkräfteten Arbeiter zum ersten Mal sogenannte »Genesungssaußenstellen« oder »Genesungspunkte« eingerichtet. Aber weil das »Genesen« ein paar Jahre gedauert hätte und nicht ein paar Tage, zeigten diese Einrichtungen nicht die gewünschte Wirkung auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft. Dafür merkten sich alle Kolymabewohner ein schalkhaftes Scherzlied, weil sie glaubten, dass der Häftling, solange er sich die Ironie bewahrt, Mensch bleibt:
Erst GP und dann GK
An den Fuß ein Schildchen, und das wars!..
Das Schildchen mit der Nummer der Lagerakte wird beim Begraben des Häftlings an den linken Fuß gebunden.
Der Geflüchtete aber, auch wenn er fünf Jahre zusätzliche Haft erhielt, sofern ihm der Untersuchungsführer nicht die Plünderung von Fahrzeugen anhängen konnte – blieb gesund und am Leben, und ob man eine Haftstrafe von 5, 10 oder 15 Jahren, von 20 Jahren hatte – machte im Grunde keinerlei Unterschied, denn im Bergwerk konnte man auch fünf Jahre nicht arbeiten. Im Bergwerk konnte man fünf Wochen arbeiten.
Es häuften sich solche Kurortfluchten, es häuften sich die Plünderungen, es häuften sich die Morde. Aber weder die Morde noch die Plünderungen reizten die oberste Leitung, die den Umgang mit Papier, mit Ziffern gewohnt war, nicht mit lebendigen Menschen.
Und die Ziffern sagten, dass der Wert der geplünderten Ware – die Verkürzung des Lebens durch den Mord ging überhaupt nicht in die Berechnungen ein – wesentlich niedriger lag als der Wert der verlorenen Arbeitsstunden und -tage.
Die Kurortfluchten waren für die Leitung der größte Schrecken. Artikel 82 des Strafgesetzes hatte man vollkommen vergessen, er wurde niemals wieder angewandt.
Jetzt behandelte man die Fluchten als Verbrechen gegen die Ordnung, die Verwaltung, gegen den Staat, als politischen Akt.
Die Flüchtigen fielen nun ausgerechnet unter Artikel 58, gemeinsam mit den Vaterlandsverrätern. Und als Punkt zu Artikel 58 wählten die Juristen einen bekannten, den zuvor im Schachty-»Schädlings«-Prozess angewandten. Das war Artikel 58 Punkt 14 – »konterrevolutionäre Sabotage«. Flucht ist Arbeitsverweigerung, und Arbeitsverweigerung ist konterrevolutionäre Sabotage. Eben nach diesem Punkt und diesem Artikel wurden die Flüchtigen nun abgeurteilt. Zehn Jahre für Flucht wurden zur minimalen zusätzlichen Haftstrafe. Wiederholte Flucht wurde mit zwanzig Jahren bestraft.
Das schreckte niemanden und verringerte weder die Zahl der Fluchten noch die Zahl der Plünderungen.
Gleichzeitig wurde nun jedes Arbeitsversäumnis ebenfalls als Sabotage ausgelegt, und die Strafe für Arbeitsverweigerung – das größte Verbrechen im Lager – wurde immer höher. »Fünfundzwanzig plus fünf Entzug« – so lautete über lange Kriegs-und Nachkriegsjahre die Formel des Urteils über Verweigerer und Flüchtige.
Jene spezifischen Züge, die die Fluchten an der Kolyma von gewöhnlichen Fluchten unterscheiden, machen sie nicht einfacher. Wenn in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle das Überschreiten jener Grenze, die die Flucht von einer unerlaubten Entfernung trennt – leicht ist, wachsen die Schwierigkeiten mit jedem Tag, mit jeder Stunde des Vorrückens durch die ungastliche, allem Lebendigen feindliche Natur des Hohen Nordens. Die extrem begrenzten Fluchtzeiträume, begrenzt aufgrund der Jahreszeiten, nötigen zur Eile in der Vorbereitung und dazu, große und schwierige Entfernungen in kurzer Zeit zu überwinden. Weder der Bär noch der Luchs sind dem Flüchtling gefährlich. Er stirbt an der eigenen Kraftlosigkeit in dieser harten Region, wo der
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