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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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ihres Feldzugs überfallen hatten, schwenkte ein Tuch und rief:
    »Ergebt euch, ihr seid umzingelt. Ihr habt keine Wahl …«
    Schewzow lehnte sich aus dem Schober:
    »Du hast recht. Komm, nimm die Waffen an …«
    Der Kommandeur der Einheit sprang heraus auf den Sumpfpfad, rannte auf die Schober zu, wankte, ließ die Mütze fallen und fiel mit dem Gesicht in eine Sumpfpfütze. Schewzows Kugel hatte ihn direkt in die Stirn getroffen.
    Sofort begann wildes Feuer von überallher, Kommandos waren zu hören, die Soldaten warfen sich von allen Seiten auf die Schober, doch die Rundumverteidigung der unsichtbaren Flüchtigen, die im Heu versteckt waren, unterbrach den Angriff. Die Verwundeten stöhnten, die Unverletzten versteckten sich im Sumpf; von Zeit zu Zeit knallte ein Schuss, und ein Soldat zuckte und lag hingestreckt.
    Wieder begann das Feuer auf die Schober, diesmal unbeantwortet. Nach einer Stunde Feuer wurde ein neuer Angriff begonnen, wieder beendet durch die Schüsse der Flüchtigen. Wieder lagen Leichen im Sumpf und stöhnten Verletzte.
    Der anhaltende Beschuss begann von Neuem. Zwei Maschinengewehre wurden aufgestellt, und nach einigen Salven – ein neuer Angriff.
    Die Schober schwiegen.
    Als die Soldaten alle Schober nach verschiedenen Seiten auseinandergefegt hatten – zeigte sich, dass nur ein Flüchtling am Leben war, der Koch Soldatow. Ihm waren beide Unterschenkel, die Schulter und der Unterarm durchschossen, aber er atmete noch. Alle übrigen waren tot, erschossen. Aber die übrigen waren nicht elf, sondern nur neun Personen.
    Es fehlte Janowskij selbst, und es fehlte Kusnezow.
    Am selben Abend wurde zwanzig Kilometer flussaufwärts ein Unbekannter in Militäruniform aufgegriffen. Von Kämpfern umzingelt, beging er mit einer Pistole Selbstmord. Der Tote wurde sofort identifiziert. Das war Kusnezow.
    Es fehlte nur der Anführer, Oberstleutnant Janowskij. Sein Schicksal wurde niemals aufgeklärt. Sie suchten ihn lange, viele Monate. Er konnte weder im Fluss davongeschwommen sein, noch über Bergpfade entkommen – alles war bestens blockiert. Höchstwahrscheinlich hatte er Selbstmord begangen und sich vorher in eine tiefe Höhle, ein Bärenlager zurückgezogen, wo die Tiere der Tajga seine Leiche fraßen.
    Aus dem Zentralkrankenhaus wurde für diese Schlacht der beste Chirurg mit zwei Freien, unbedingt freien Feldschern angefordert. Der Anderthalbtonner des Krankenhauses kam bis zum Abend kaum bis zur Sowchose »Elgen«, wo der Stab der entsprechenden Einheit war – eine solche Menge von Militär-»Studebakers« verstellte ihr den Weg.
    »Was ist das – Krieg, oder was?«, fragte der Chirurg den obersten Chef, den Leiter der Operation.
    »Krieg oder nicht, aber wir haben schon achtundzwanzig Gefallene. Und wie viele Verwundete – werden Sie selbst gleich sehen.«
    Der Chirurg verband und operierte bis zum Abend.
    »Wie viel Flüchtige waren es denn?«
    »Zwölf.«
    »Da hätten Sie Flugzeuge anfordern und Bomben, Bomben werfen sollen. Atombomben.«
    Der Chef sah den Chirurgen von der Seite an:
    »Sie sind ein ewiger Possenreißer, das weiß ich schon lange, aber Sie werden sehen – man wird mich entlassen und mich zwingen, früher in den Ruhestand zu treten.« Der Chef seufzte schwer.
    Seine Ahnung trog ihn nicht. Wegen dieser Flucht wurde er von der Kolyma versetzt und abgelöst.
    Soldatow erholte sich und wurde zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Der Lagerchef bekam zehn Jahre, die Posten, die auf den Türmen gestanden hatten – je fünf Jahre Haft. Sehr viele Menschen im Bergwerk wurden in dieser Sache verurteilt, mehr als sechzig Personen – alle, die gewusst hatten und schwiegen, die geholfen hatten oder helfen wollten, aber nicht dazu kamen. Der Kommandeur der Einheit hätte die Höchststrafe bekommen, doch Schewzows Kugel hatte ihn vor der unausweichlichen Strafe bewahrt.
    Selbst die Ärztin Potapowa, Chefin der Sanitätsabteilung, unter der der flüchtige Feldscher Nikolskij gearbeitet hatte, wurde zur Verantwortung gezogen, doch durch sofortige Versetzung an einen anderen Ort konnte man sie retten.
    1959

Der erste Zahn
    Die Häftlingsetappe war so, wie ich sie mir in meinen langen Knabenjahren vorgestellt hatte. Geschwärzte Gesichter und blaue Münder , verbrannt von der Aprilsonne des Urals . Hünenhafte Begleitposten springen auf die fahrenden Bauernschlitten auf, die Schlitten sausen los; eine Hiebwunde über das ganze Gesicht bei dem einäugigen, dem vorderen Begleitposten,

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