Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
einem Balken hing, spielten ihr ewiges »Bura« oder »Stosz«. Aber bald schliefen auch die Ganoven ein. Auch ich schlief ein, beim Nachdenken über mein Handeln. Ich hatte keinen älteren Kameraden, es gab kein Vorbild. Ich war allein in dieser Etappe, ich hatte weder Freunde noch Kameraden. Mein Schlaf wurde unterbrochen. Eine Laterne leuchtete mir ins Gesicht, und einer meiner aus dem Schlaf geweckten Ganoven-Nachbarn wiederholte zustimmend und kriecherisch:
    »Der war es, der war es …«
    Die Laterne hielt der Begleitposten in der Hand.
    »Komm raus.«
    »Ich ziehe mich an.«
    »Komm so raus.«
    Ich kam. Ein nervöses Zittern schüttelte mich, und ich verstand nicht, was jetzt passieren sollte.
    Die beiden Begleitposten und ich traten hinaus auf die Vortreppe.
    »Zieh die Wäsche aus.«
    Ich zog sie aus.
    »Stell dich in den Schnee.«
    Ich stellte mich in den Schnee. Ich schaute hinauf zur Vortreppe und sah zwei auf mich gerichtete Gewehre. Wie viel Zeit in jener Nacht im Ural verging, meiner ersten Nacht im Ural – weiß ich nicht mehr.
    Ich hörte ein Kommando:
    »Zieh dich an.«
    Ich zog die Wäsche an. Ein Schlag aufs Ohr warf mich in den Schnee. Der Tritt eines schweren Absatzes traf mich direkt in die Zähne, und der Mund füllte sich mit warmem Blut und schwoll rasch an.
    »In die Baracke!«
    Ich ging in die Baracke und legte mich an meinen Platz, den schon von einem anderen Körper besetzten Platz. Alle schliefen oder taten, als ob sie schliefen … Der Salzgeschmack von Blut hörte nicht auf – im Mund war etwas Fremdes, etwas Überflüssiges, und ich packte dieses Überflüssige mit den Fingern und riss es mit einer Anstrengung aus dem eigenen Mund. Das war ein ausgeschlagener Zahn. Ich warf ihn auf das faulige Stroh, dort auf dem nackten Boden.
    Ich schlang die Arme um die schmutzigen und stinkenden Körper der Kameraden und schlief ein. Schlief ein. Ich hatte mich nicht einmal erkältet.
    Am Morgen brach die Etappe auf, und die blauen gleichmütigen Augen Schtscherbakows ließen den gewohnheitsmäßigen Blick über die Häftlingsreihen wandern. Pjotr Sajaz stand in der Reihe, er wurde nicht geschlagen, und er schrie auch nichts von Drachen. Die Ganoven sahen mich feindselig und vorsichtig an – im Lager lernt jeder, für sich selbst einzustehen.
    Noch zwei Tage Weg, und wir kamen bei der Verwaltung an, einem neuen Blockhaus am Flussufer.
    Zum Empfang der Etappe trat der Kommandant Nesterow heraus – der Chef mit den behaarten Fäusten. Viele Ganoven, die neben mir marschiert waren, kannten diesen Nesterow und lobten ihn sehr.
    »Es werden Flüchtige gebracht. Nesterow kommt raus: ›A-a, Prachtkerle, da seid ihr. Na, sucht es euch aus, Kinnhaken oder Isolator‹. Und der Isolator hat dort einen Eisenboden, mehr als drei Monate halten es die Leute nicht aus, dazu das Untersuchungsverfahren, dazu eine zusätzliche Haftstrafe. ›Kinnhaken, Iwan Wassiljewitsch.‹ Er holt aus – umgehauen! Holt noch einmal aus – wieder umgehauen. Er war ein Meister. ›Geh in die Baracke.‹ Und Schluss. Und Ende des Untersuchungsverfahrens. Ein guter Chef.«
    Nesterow lief die Reihen ab und sah aufmerksam in die Gesichter.
    »Keine Klagen über die Begleitposten?«
    »Nein, nein«, antwortete der ungeordnete Stimmenchor.
    »Und du«, der behaarte Finger berührte meine Brust. »Warum antwortest du undeutlich? Röchelst irgendwie.«
    »Er hat Zahnschmerzen«, antworteten meine Nachbarn.
    »Nein«, antwortete ich und bemühte mich, meinen zerschlagenen Mund die Worte so fest wie möglich sprechen zu lassen. »Keine Klagen über die Begleitposten.«
    … … … … … … … … … … … …
    »Keine schlechte Erzählung«, sagte ich Sasonow. »Literarisch gut gemacht. Nur drucken wird man sie ja nicht. Und das Ende ist irgendwie amorph …«
    »Ich habe ein anderes Ende«, sagte Sasonow. »Ein Jahr später war ich im Lager ein großer Chef. Damals war ja die ›Umschmiedung‹ im Gang, und Schtscherbakow hatte den Platz des zweiten Operativbevollmächtigten in der Abteilung bekommen, in der ich arbeitete. Dort hing vieles von mir ab, und Schtscherbakow fürchtete, dass ich mir diese Geschichte mit dem Zahn gemerkt hätte. Schtscherbakow hatte diesen Fall auch nicht vergessen. Er hatte eine große Familie, die Stelle war einträglich und wichtig, und er, ein treuherziger und aufrechter Mann, kam zu mir und wollte hören, ob ich gegen seine Ernennung nicht Einspruch erheben würde. Er kam mit einer Flasche,

Weitere Kostenlose Bücher