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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Einige Monate hintereinander war der Koch jeden Tag genau um fünf Uhr morgens den Schlüssel holen gekommen. Der Diensthabende schob den Riegel zurück und ließ Soldatow ein. Der zweite Aufseher war nicht in der Wache, er war gerade durch die äußere Tür gegangen – die Wohnung, in der er mit seiner Familie wohnte, lag dreihundert Meter von der Wache entfernt.
    Alles war kalkuliert, und der Urheber des Spektakels sah durch das kleine Fenster zu, wie der erste Akt des vor Langem ersonnenen Spektakels begann, wie all das, was in der Phantasie und im Geist tausendmal durchgespielt war, lebendige Gestalt annahm.
    Der Koch ging zu der Wand, wo der Schlüssel hing, und am Fensterchen klopfte es wieder. Der Aufseher kannte den Klopfenden gut – das war der Häftling Schewzow, Mechaniker und Waffenmeister, der schon öfter die Maschinenpistolen, Flinten und Pistolen der Truppe repariert hat – er ging dort ein und aus.
    In diesem Moment warf sich Soldatow von hinten auf den Aufseher und erstickte ihn, unterstützt von dem in die Wache hereingekommenen Schewzow. Den Toten warfen sie unter ein Liegebett in einer Ecke der Wache und häuften Holz auf ihn. Soldatow und Schewzow hatten dem Getöteten Mantel, Stiefel und Mütze ausgezogen, und Soldatow, in der Uniform des Aufsehers und mit seinem Revolver bewaffnet, setzte sich an den Tisch des Diensthabenden. Unterdessen kam der zweite Aufseher zurück. Ehe er irgendetwas begriff – war er erstickt, so wie der erste. Seine Kleidung zog Schewzow an.
    Unerwartet erschien in der Wache die Frau des zweiten Aufsehers, der zum Frühstücken zu Hause gewesen war. Sie wurde nicht getötet, sondern nur an Händen und Füßen gefesselt und geknebelt und neben die Toten hingelegt.
    Ein Begleitposten brachte eine Arbeiterbrigade von der Nachtschicht und betrat die Wache, um die Übergabe der Leute zu unterschreiben. Er wurde ebenfalls getötet. So erwarb man ein Gewehr und einen weiteren Mantel.
    Auf dem Hof um die Wache herum liefen schon Menschen, wie zu erwarten während des Ausrückens, und in diesem Moment übernahm Oberstleutnant Janowskij das Kommando.
    Von den nächsten Ecktürmen konnte man den Raum um die Wache herum beschießen. Auf beiden Türmen gab es Posten, aber an dem trüben Morgen nach der weißen Nacht bemerkten die Posten nichts Verdächtiges auf dem Platz vor der Wache. Wie immer öffnete der diensthabende Aufseher das Tor und zählte die Leute, wie immer kamen zwei Begleitposten, um die Brigade zu übernehmen. Jetzt bildeten die Begleitposten eine kleine, aus nur zehn, nein, sogar neun Personen bestehende Brigade, und führten sie … Dass die Brigade von der Straße auf einen Pfad einschwenkte, alarmierte die Posten ebenfalls nicht – über den Pfad, der am Wachtrupp vorbeiführte, hatten die Begleitposten die Arbeiter auch früher geführt, wenn sie spät ausrückten.
    Die Brigade lief am Wachtrupp vorbei, und der schläfrige Diensthabende, der sie durch die geöffnete Tür sah, wunderte sich nur, warum man die Brigade auf Vordermann, im Gänsemarsch auf dem Pfad führte, und nicht im gewöhnlichen Verband auf der Straße – als er betäubt und entwaffnet wurde und die »Brigade« sich auf die Flintenpyramide stürzte, die gleich hier stand, im Blickfeld des Diensthabenden, in der vorderen Hälfte der Kaserne.
    Der mit einer Maschinenpistole bewaffnete Janowskij riss die Tür auf, hinter der vierzig Wachsoldaten schliefen, die jungen Kader des Begleitpostendienstes. Eine Maschinenpistolensalve unter die Decke ließ alle unter die Betten verschwinden. Janowskij übergab die Maschinenpistole Schewzow und ging in den Hof, wohin seine Kameraden schon Lebensmittel und Waffen mit Munition aus den aufgebrochenen Magazinen des Wachtrupps schleppten.
    Die Posten auf den Türmen konnten sich nicht entschließen, das Feuer zu eröffnen – später sagten sie, dass sie nicht hätten sehen und verstehen können, was sich im Wachtrupp tat. Ihren Aussagen wurde kein Glauben geschenkt, und die Posten wurden später bestraft.
    Die Flüchtigen packten in Ruhe. Janowskij befahl, nur Waffen und Patronen mitzunehmen, so viele Patronen wie möglich, und an Lebensmitteln – nur Schiffszwieback und Schokolade. Der Feldscher Nikolskij stopfte Verbandpäckchen in eine Tasche mit rotem Kreuz. Alle zogen neue Militäruniformen an und suchten sich Stiefel in der Bekleidungsund Ausrüstungskammer der Einheit.
    Schon als sie im Häftlingsverband aus dem Lager gingen und den Wachtrupp

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