Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
markante blaue Augen beim Begleitpostenchef – nach dem ersten halben Tag der Etappe kannten wir schon seinen Namen, Schtscherbakow. Die Häftlinge – und wir waren ungefähr zweihundert Mann – kannten schon den Namen des Chefs. Auf fast wunderbare, mir unzugängliche, unverständliche Weise. Die Häftlinge sprachen diesen Namen beiläufig aus, als würde unsere Reise mit Schtscherbakow ewig dauern. Und er wäre für immer in unser Leben eingetreten. Und so war es auch – für viele von uns. Die geschmeidige riesige Figur Schtscherbakows tauchte hier und dort auf, sie eilte voraus, empfing und begleitete mit den Augen das letzte Fuhrwerk der Etappe und setzte ihm dann erst nach, überholte erst dann. Ja, wir hatten Fuhrwerke, klassische Fuhrwerke, auf denen die sibirischen Tscheldonen ihre Sachen transportierten – die Etappe lief ihren fünftägigen Weg im Häftlingsverband, ohne Sachen, und an den Stationen und bei Appellen glich sie den ungeordneten Reihen von Rekruten irgendwo an einem Bahnhof. Aber alle Bahnhöfe blieben für lange abseits unserer Lebenswege. Es war Morgen, ein erfrischender Aprilmorgen, Dämmerung, das sich lichtende Halbdunkel des Klosterhofs, in dem unsere Etappe, gähnend und hustend, antrat, um sich auf den weiten Weg zu machen.
Im Keller der Miliz von Solikamsk, in einem ehemaligen Kloster, hatten wir die Nacht verbracht nach der Ablösung des fürsorglichen und wortkargen Moskauer Begleitpostens durch eine Horde schreiender gebräunter junger Kerle unter dem Kommando des blauäugigen Schtscherbakow. Gestern Abend hatten wir uns in den kalten, frostigen Keller gedrängt – um die Kirche herum war Eis und Schnee, der tagsüber ein wenig taute und abends gefror, blaue, graue Schneehaufen bedeckten den ganzen Hof, und um an den Kern des Schnees, zum Weißen vorzudringen – musste man die harte, die Hände zerschneidende Eiskruste aufbrechen, eine kleine Grube graben und erst dann aus der Grube den grobkörnigen, auseinanderfallenden Schnee schöpfen, der im Mund so freudig zerschmolz, der mit seiner Fadheit die ausgetrockneten Münder verbrannte, ein wenig kühlte.
Ich betrat den Keller als einer der ersten und konnte mir einen wärmeren Platz aussuchen. Die riesigen eisigen Gewölbe erschreckten mich, und ich – ein unerfahrener Jüngling – suchte mit den Augen nach etwas wie einem Ofen, und sei es einem wie bei Figner und Morosow. Und fand nichts. Aber mein zufälliger Kamerad, Kamerad nur für diesen kurzen Moment des Eintretens in den Gefängnis-, den Kirchenkeller – der kleingewachsene Ganove Gussew, schob mich direkt an die Wand, an das einzige, vergitterte Doppelfenster. Das Fenster war halbrund und begann direkt auf dem Boden dieses Kellers, etwa ein Meter hoch, und sah aus wie eine Schießscharte. Ich wollte mir schon einen anderen, wärmeren Platz suchen, aber die Menschenmenge strömte und strömte durch die schmale Tür, und umzukehren war völlig unmöglich.
Ebenso ruhig, ohne ein Wort zu sagen, trat Gussew mit der Stiefelspitze ins Glas und zertrümmerte erst die erste und dann die zweite Scheibe. Durch die ausgeschlagene Öffnung schlug kalte Luft, sengend wie kochendes Wasser. Vom Strahl dieser Luft erfasst, begann ich, der vom langen Warten und dem unendlichen Durchzählen auf dem Hof ohnehin schrecklich fror, vor Kälte zu zittern. Nicht sofort begriff ich Gussews ganze Weisheit – von den zweihundert Häftlingen atmeten nur wir diese ganze Nacht frische Luft. Die Menschen waren so in den Keller gestopft, gepfercht, dass sie weder sitzen noch liegen konnten, nur stehen.
Bis zur halben Wand stand der Keller voller weißem, unreinem, stickigem Atemdampf. Es begannen die Ohmachten. Die nach Luft Schnappenden waren bemüht, sich zur Tür durchzuschlagen, die eine Ritze hatte und ein »Guckloch«, ein Auge, und versuchten durch dieses Auge zu atmen. Doch der Begleitposten vor der Tür stieß ab und zu mit dem Bajonett seines Gewehrs in das Auge, und die Versuche, durch das Gefängnisauge frische Luft zu atmen, wurden eingestellt. Ein Feldscher oder Arzt wurde selbstverständlich nicht zu den Ohnmächtigen gerufen. Nur Gussew und ich hielten glücklich an der von dem weisen Gussew zerschlagenen Scheibe durch. Das Antreten dauerte lange … Wir gingen als letzte aus dem Keller, der Nebel hatte sich zerstreut, und die Decke kam zum Vorschein, ein Deckengewölbe, der Gefängnis- und Kirchenhimmel war ganz nah – mit Händen zu greifen. Und an den Kellergewölben
Weitere Kostenlose Bücher