Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
der Miliz von Solikamsk fand ich einen Schriftzug, mit einfacher Kohle in riesigen Buchstaben über die ganze Decke gemalt: »Kameraden! In diesem Grab sind wir drei Tage gestorben und doch nicht tot. Verliert den Mut nicht, Kameraden!«
Zum Geschrei des Kommandos schleppte sich die Etappe aus der Einfriedung von Solikamsk hinaus und lief in die Senke. Der Himmel war tiefblau, wie die Augen des Begleitpostenchefs. Die Sonne sengte, der Wind kühlte unsere Gesichter – sie waren schon braun vor dem ersten Nachtlager auf dem Weg. Das Übernachten der Etappe, im Voraus vorbereitet, verlief immer in einer festgesetzten Form. Für das Nachtlager der Häftlinge wurden bei Bauern zwei Hütten requiriert – eine sauberere, eine ärmlichere – etwas in der Art einer Scheune und manchmal tatsächlich eine Scheune. Ich wollte natürlich in die »saubere« kommen. Aber das hing nicht von meinem Willen ab: jeden Abend in der Dämmerung ließ man alle am Begleitpostenchef vorbeiziehen, der mit einer Handbewegung zeigte, wo der jeweilige Häftling die nächste Nacht verbringen sollte. Damals erschien mir Schtscherbakow als der Weiseste der Weisen, weil er nicht in Papieren und Listen kramte und nach den »Artikeln« suchte, sondern in dem Moment, wenn die Etappe sich nicht mehr bewegte, ein Handzeichen machte und den nächsten Etappenhäftling losschickte. Später dachte ich, dass Schtscherbakow ein scharfsichtiger Mensch ist – jedesmal erwies sich seine Wahl, die er auf irgendeine unbegreifliche Weise traf, als richtig – alle »Achtundfünfziger« waren zusammen, und die »Fünfunddreißiger« auch. Noch später dann, nach ein, zwei Jahren, dachte ich, dass an der damaligen Weisheit Schtscherbakows nichts Wunderbares war: die Fähigkeit, einen Menschen nach seinem Äußeren zu beurteilen, ist jedem zugänglich. In unserer Etappe hätten zusätzliche Merkmale das Gepäck, die Koffer sein können. Aber das Gepäck wurde extra gefahren, auf den Fuhrwerken der Bauern, den Bauernschlitten.
Gleich bei der ersten Übernachtung kam es auch zu dem Ereignis, um das es in dieser Erzählung geht. Zweihundert Mann standen und erwarteten die Ankunft des Begleitpostenchefs, und auf der linken Seite hörte man irgendwelches Geschrei, ein Hin und Her, das Keuchen von Menschen, Gebrüll, Gefluche und schließlich den vernehmlichen Schrei: »Ihr Drachen! Ihr Drachen!« Vor dem Häftlingsverband wurde ein Mann in den Schnee geworfen. Sein Gesicht war blutig geschlagen, die von fremder Hand auf seinen Kopf gestülpte kaukasische Papacha ragte auf und konnte die schmale, blutende Wunde nicht verdecken. Der Mann trug ein braunes handgemachtes Webgewand – ein Ukrainer, ein Chochol . Ich kannte ihn. Das war Pjotr Sajaz, ein Sektenmitglied. Er war aus Moskau im selben Waggon wie ich gekommen. Er betete und betete immerzu.
»Er will nicht beim Appell stehen!«, meldete atemlos der von dem Hin und Her erhitzte Begleitposten.
»Stell ihn auf«, kommandierte der Begleitpostenchef.
Sajaz wurde aufgestellt, von zwei riesigen Begleitposten unter den Achseln gestützt. Aber Sajaz war einen Kopf größer, stärker und schwerer als sie.
»Du willst nicht stehen, du willst nicht?«
Schtscherbakow schlug Sajaz mit der Faust ins Gesicht, und Sajaz spuckte in den Schnee.
Und plötzlich spürte ich, wie es mir im Herzen brennend heiß wurde. Und plötzlich begriff ich, dass sich alles, dass mein ganzes Leben sich jetzt entscheidet. Und wenn ich nicht etwas tue, und was genau, weiß ich selbst auch nicht, dann heißt das, ich bin umsonst hergekommen mit dieser Etappe, habe meine zwanzig Jahre umsonst gelebt.
Die sengende Scham über die eigene Feigheit strömte zurück aus meinen Wangen – ich spürte, wie die Wangen kalt wurden und der Körper leicht.
Ich trat aus der Reihe und sagte mit bebender Stimme:
»Sie dürfen den Mann nicht schlagen.«
Schtscherbakow musterte mich mit großem Erstaunen.
»Tritt in die Reihe.«
Ich trat zurück in die Reihe. Schtscherbakow gab das Kommando, und die Etappe, die sich auf zwei Bauernhütten verteilte, dem Fingerzeig Schtscherbakows folgend – verschwand in der Dunkelheit. Schtscherbakows Finger zeigte für mich auf das »schwarze« Haus.
Auf dem feuchten, letztjährigen, nach Fäulnis riechenden Stroh legten wir uns schlafen. Das Stroh war auf den nackten blanken Boden gestreut. Wir streckten uns in einer Reihe hin, damit es wärmer war, und nur die Ganoven, die sich um die Laterne einrichteten, die an
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