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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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mit dem schöpferischen Akt, mit der Inspiration verbindet, dass sie einen eigentümlichen psychologischen Zustand der Nervenerregung und des Schwungs erleben, der sich mit nichts vergleichen lässt in seinem Reiz, seiner Fülle, Tiefe und Stärke.
    Es heißt, dass der Stehlende in diesem Moment ein unermesslich volleres Leben lebt als der Kartenspieler am grünen Tisch oder eher dem Kissen – dem traditionellen Kartentisch der Ganovenwelt.
    »Du fährst in eine Tasche«, erzählt ein Taschendieb, »und das Herz klopft und klopft … du stirbst tausend Tode und lebst wieder auf, während du diese verfluchte Brieftasche herausziehst, in der an Geld vielleicht zwei, drei Rubel sind.«
    Es gibt vollkommen ungefährliche Diebstähle, aber die »schöpferische« Erregung, die Diebes»inspiration« ist trotzdem da. Das Empfinden des Risikos, der Leidenschaft, des Lebens.
    Der Dieb kümmert sich nicht im Mindesten um den Menschen, den er bestiehlt. Im Lager stiehlt der Dieb oft vollkommen überflüssige Klamotten, nur um zu stehlen, um ein weiteres Mal die »hohe Krankheit« des Diebstahls zu erleben. Ein »Infizierter« nennen die Ganoven ihn. Aber Vertreter der »reinen Kunst« des Diebstahls gibt es im Lager nur wenige. Die Mehrzahl bevorzugt den Raub, nicht den Diebstahl, den dreisten und offenen Raub, der dem Opfer vor aller Augen das Jackett, den Schal, den Zucker, die Butter, den Tabak entreißt – alles, was man essen und alles, was im Kartenspiel als Währung dienen kann.
    Ein Eisenbahndieb berichtete von dieser besonderen Erregung, mit der er den gestohlenen »Igel« (Koffer) öffnet. »Die Schlösser machen wir nicht auf«, sagte er, »mit dem Deckel gegen einen Stein – und der ›Igel‹ ist offen.«
    Diese Diebes»inspiration« ist sehr weit entfernt von menschlicher Kühnheit. Kühnheit ist nicht das richtige Wort. Das ist Dreistigkeit reinsten Wassers, grenzenlose Dreistigkeit, die nur starke Absperrungen aufhalten können.
    Jegliche psychologische Spannung in Gestalt von Gemütsbewegungen geht der Tätigkeit des Diebes ab.
    Die Karten nehmen sehr großen Raum im Leben des Ganoven ein.
    Nicht alle Ganoven sind süchtige, praktisch »krankhafte« Kartenspieler und verspielen in der Schlacht ihre letzten Hosen. Auf solche Weise alles zu verspielen gilt nicht als Schande.
    Allerdings können alle Ganoven Karten spielen. Unbedingt. Das Beherrschen des Kartenspiels gehört zum »Ehrenkodex« eines »Menschen« der Ganovenwelt. Es sind nur wenige Karten-Glücksspiele, die der Ganove beherrschen muss und die er von klein auf lernt. Die jungen Diebe üben dauernd – sowohl die Herstellung von Karten als auch die Kunst, einen »Transport mit Kusch« zu landen.
    Übrigens notierte Tschechow diesen Kartenausdruck, der die Vergrößerung des Einsatzes (»mit Kusch«) bedeutet, in seinem »Insel Sachalin« als »Transport mit Kutsche« (!) und gab das als einen Terminus des Kartenspiels unter Kriminellen aus. So wandert dieser Fehler durch alle Ausgaben der »Insel Sachalin«, inklusive der Akademieausgaben. Der Schriftsteller hatte sich bei einer vollkommen gängigen Formel im Kartenspiel verhört.
    Die Ganovenwelt ist eine konservative Welt. Die Macht der Traditionen ist in ihr sehr stark. Darum haben sich in dieser Welt Spiele gehalten, die längst aus dem gewöhnlichen Leben verschwunden sind. Der Staatsrat Stoss aus Gogols »Portrait« ist in der Ganovenwelt bis heute Realität. Das uralte Spiel »Stosse« erhielt die andere, lexikalisch beweglichere Bezeichnung »Stoß«. In einer Erzählung von Kawerin singen Kindervagabunden eine bekannte Romanze und ändern sie nach ihrem Begriff und Geschmack: »Schwarze Rose, Blem der Trauer …«
    »Stoß« spielen können muss jeder Ganove, er muss die Ecken umknicken wie German oder Tschekalinskij .
    Das zweite Spiel – das erste, was seine Verbreitung betrifft – ist »Bura«, der Ganoven-Name für »Einunddreißig«. Mit »Siebzehn und Vier« verwandt, blieb Bura ein Spiel der Ganovenwelt. »Siebzehn und Vier« spielen die Diebe untereinander nicht.
    Das dritte und schwierigste, ein Spiel mit Aufzeichnen, ist »Terz« – eine Variante von »Fünfhunderteins«. Dieses Spiel spielen die Meister, überhaupt die »Ältesten«, die Aristokratie der Ganovenwelt, die Gebildeteren.
    Sämtliche Kartenspiele der Ganoven zeichnen sich durch eine große Zahl von Regeln aus. Diese Regeln muss man sich gut merken, und wer sie am besten kennt, gewinnt.
    Das Kartenspiel ist immer

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