Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
seinem »Gesetz« nicht für eine Ehre und ein Ruhmesblatt hält, einen
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zu denunzieren, so hat er keineswegs etwas dagegen, um des eigenen Vorteils willen eine politische Charakteristik jedes seiner
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-Nachbarn zu erstellen und an die Leitung zu übergeben. Im Jahr 1938 und später, bis ins Jahr 1953, weiß man von buchstäblich Tausenden Besuchen von Dieben bei der Lagerleitung, die angaben, sie, als die wahren Volksfreunde, müssten »Faschisten« und »Konterrevolutionäre« denunzieren. Diese Anzeigen hatten massenhaften Charakter, der Gegenstand des beständigen besonderen Hasses der Diebe im Lager waren immer Häftlinge aus der Intelligenz – die »Iwan Iwanowitschs«.
Die Taschendiebe hatten einmal den qualifiziertesten Teil der Welt der Diebe dargestellt. Die Meister der »Brusttaschen«-Diebstähle durchliefen sogar eine Art Ausbildung, eigneten sich die Technik ihres Handwerks an, waren stolz auf ihr spezielles Fach. Sie unternahmen lange »Gastspiel«-Reisen, auf denen sie von Anfang bis Ende ihrem Können treu blieben, ohne sich in die verschiedensten »Einschleichungen« oder Neppereien zu verirren. Die geringe Strafe für Taschendiebstahl, die bequeme Beute – reines Geld –, diese beiden Umstände ziehen die Diebe am Taschendiebstahl an. Die Fähigkeit, sich in beliebiger Gesellschaft zu verhalten, um sich nicht zu verraten, war auch ein wichtiger Vorzug der Meister des Taschendiebstahls.
Leider reduzierte die Währungspolitik den »Verdienst« der Taschendiebe auf ein miserables Einkommen im Verhältnis zum Risiko und zur Verantwortung. Besser »für Scheckbuch und Seele« war das vulgäre »Abhängen« der Wäsche von der Leine – sie war teurer als der Inhalt jeder Brieftasche, die man im Bus oder in der Straßenbahn ergattern konnte. Tausende wirst du in der Jackentasche nicht finden, und jede »Kluft« ist trotz des Nachlasses auf Diebesgut teurer als das Geld, das in den meisten Brieftaschen zu holen ist.
Die Taschendiebe wechselten das Fach und reihten sich unter die »Einbrecher« ein.
Und dennoch ist das »Gaunerblut« kein Synonym für »blaues Blut«. »Gaunerblut«, einen »Tropfen Gaunerblut« kann auch ein
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haben, wenn er gewisse Überzeugungen der Ganoven teilt, den »Menschen« hilft und dem Ganoven-Gesetz wohlwollend gegenübersteht.
Einen »Tropfen Gaunerblut« kann sogar ein Untersuchungsführer haben, der die Seele der Ganovenwelt versteht und dieser Welt heimlich Wohlwollen entgegenbringt. Sogar (und gar nicht selten) ein Lagerchef, der den Ganoven wichtige Erleichterungen weder gegen Bestechung noch unter Drohung gewährt. Einen »Tropfen Gaunerblut« haben auch alle »
suki
« der Welt – nicht umsonst waren sie einmal Diebe. In gewissen Dingen können Menschen mit einem Tropfen Gaunerblut einem Dieb hilfreich sein, und das muss der Dieb im Auge haben. »Gaunerblut« haben alle »Ehemaligen«, die nicht mehr stehlen, die zur ehrlichen Arbeit zurückgekehrt sind. Solche gibt es auch, das sind keine »
suki
«, und die »Ehemaligen« rufen keinesfalls Hass hervor. Bei Gelegenheit können sie in einer schweren Minute sogar hilfreich sein – hier zeigt sich das »Gaunerblut«.
Baldowerer, Hehler und Wirte der Diebes-Spelunken sind sicherlich Leute mit »Gaunerblut«.
Alle
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, die einem Dieb so oder anders geholfen haben, besitzen, wie die Ganoven sagen, diesen »Tropfen Gaunerblut«.
Das ist das gemeine, herablassende Lob des Ganoven für alle, die dem Gesetz der Diebe wohlwollend gegenüberstehen, für alle, die der Dieb betrügt und die er mit billiger Schmeichelei bezahlt.
1959
Die Frau in der Ganovenwelt
Aglaja Demidowa wurde mit falschen Papieren ins Krankenhaus gebracht. Nicht, dass ihre Akte, ihr Häftlingspass gefälscht worden wäre. Nein, in dieser Hinsicht war alles in Ordnung, nur hatte die Akte einen neuen gelben Deckel – ein Zeichen dafür, dass die Haftzeit von Aglaja Demidowa erneut und erst kürzlich begonnen hatte. Sie war angereist und hatte denselben Namen angegeben, unter dem sie auch vor zwei Jahren ins Krankenhaus gebracht wurde. Nichts geändert hatte sich auch an ihren Basisdaten, außer der Haftzeit. Fünfundzwanzig Jahre – und vor zwei Jahren waren der Deckel ihrer Akte blau gewesen und die Haftzeit zehn Jahre.
Zu den mehreren zweistelligen Ziffern, die mit Tinte in der Rubrik »Artikel« standen, war eine weitere Ziffer dazugekommen – eine dreistellige. Aber all das war ganz und gar echt, nicht gefälscht.
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