Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Gelegenheit, einen Brief zu lesen, den eine Gruppe von Dieben ihm aus der Etappe geschrieben hatte und worin sie ihn bat, ihre Kampfgefährten ins Krankenhaus zu legen, die nach ihrer Meinung Erholung brauchten. Und die auf der Liste aufgeführten Ganoven wurden nach und nach ins Krankenhaus gelegt.
Iwan Aleksandrowitsch hatte keine Angst vor den Ganoven. Er war ein Kolyma-Veteran, hatte viel erlebt, mit Drohungen hätten die Ganoven nichts erreicht. Aber das freundschaftliche Schulterklopfen, die Komplimente der Ganoven, die Iwan Aleksandrowitsch für bare Münze nahm, sein Ruhm innerhalb der Ganovenwelt, ein Ruhm, dessen Wesen er nicht verstand und nicht verstehen wollte – dies führte ihn an die Ganovenwelt heran. Iwan Aleksandrowitsch war, wie auch viele andere, hypnotisiert von der Allmacht der Ganoven, und ihr Wille wurde zu seinem Willen.
Unermesslich, unabsehbar ist der Schaden, den der Gesellschaft das vieljährige Katzbuckeln vor den Dieben, dem schädlichsten Element der Gesellschaft, das nicht aufhört, unsere Jugend mit seinem stinkenden Atem zu vergiften, zugefügt hat.
Die aus rein spekulativen Prämissen entwickelte Theorie der »Umschmiedung« führte zu Zehn- und Hunderttausenden weiteren Toden an den Haftorten, zu einem vieljährigen Albtraum, den im Lager Leute stifteten, die den Namen Mensch nicht verdienen.
Die Gaunersprache verändert sich von Zeit zu Zeit. Das Auswechseln von chiffriertem Wortschatz ist nicht ein Prozess der Vervollkommnung, sondern Mittel des Selbstschutzes. Die Ganovenwelt weiß, dass die Kriminalpolizei ihre Sprache studiert. Ein Mensch, der zur »Sippe« gehört und versucht, sich in der Ganoven»musik« der zwanziger Jahre zu verständigen, als man »Posten schieben« und »Zinken stechen« sagte, weckt in den dreißiger Jahren Verdacht bei Ganoven, die an die Ausdrücke »Butter stehen« etc. gewöhnt sind.
Wir verstehen den Unterschied zwischen Dieben und Rowdys schlecht und falsch. Zweifellos sind beide gesellschaftlichen Gruppen antisozial, beide sind gesellschaftsfeindlich. Aber die wahre Gefährlichkeit jeder Gruppe abzuwägen, sie gebührend zu würdigen, gelingt uns extrem selten. Unbestritten fürchten wir den Rowdy mehr als den Dieb. Im Alltag haben wir mit Dieben sehr selten Umgang, jedes Mal finden diese Begegnungen entweder auf dem Milizrevier statt, oder bei der Kriminalpolizei, wo wir in der Rolle der Geschädigten oder Zeugen auftreten. Sehr viel bedrohlicher ist der Rowdy – ein betrunkenes Ungeheuer, ein »Tschubarowez«, der auf dem Boulevard auftaucht, oder im Klub, oder im Korridor einer Kommunalwohnung. Das Herkömmliche der russischen Bravourstücke – Besäufnisse auf den »Kirchen«festen, betrunkene Schlägereien, Belästigung von Frauen und schmutzige Flüche – all das kennen wir gut und finden wir sehr viel schrecklicher als die geheimnisvolle Welt der Diebe, von der wir – durch die Schuld der schönen Literatur – einen extrem vagen Begriff haben. Wirklich Bescheid wissen über die Rowdys und Diebe nur die Mitarbeiter der Kriminalpolizei; aber am Beispiel des Werks von Lew Schejnin kann man sehen, dass das Wissen nicht immer in der richtigen Weise genutzt wird.
Wir wissen nicht, was ein Dieb ist, was ein
urkagan
ist, was ein Ganove, ein Berufsdieb ist. Jemanden, der auf der Datscha die Wäsche von der Leine gestohlen und sich sofort am Bahnhofsbuffet betrunken hat, halten wir für einen großen »Einschleichdieb«.
Wir kommen nicht darauf, dass ein Mensch stehlen kann, ohne ein Dieb, Mitglied der Verbrecherwelt zu sein. Wir verstehen nicht, dass ein Mensch töten und stehlen kann, aber noch kein Ganove ist. Natürlich, der Ganove stiehlt. Das ist sein Leben. Aber nicht jeder Dieb ist ein Ganove, und diesen Unterschied muss man unbedingt verstehen. Die Verbrecherwelt existiert neben den anderen Diebstählen, neben den Rowdys.
Allerdings ist es für den Geschädigten gleich, wer aus seiner Wohnung die silbernen Löffel oder den Anzug à la Pulverdampf und Flammen von Navarino gestohlen hat, ob ein Ganove und Dieb, ob ein Berufsdieb, der nicht Ganove ist, oder ob der Wohnungsnachbar, der bis dahin noch niemals gestohlen hat. Soll sich doch damit die Kriminalpolizei beschäftigen.
Vor den Rowdys fürchten wir uns mehr als vor den Dieben. Klar, dass keine »Hilfsmiliz« mit den Dieben zurechtkommt, von denen wir leider eine ganz irrige Vorstellung haben. Manchmal glaubt man, dass sich irgendwo tief in der Unterwelt unter fremdem
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