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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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denen die Ganoven einem Arbeiter den Bauch aufgetrennt hätten, um an dieses Brot zu kommen, gab es immerhin nicht.
    Aber es gab – überall – etwas anderes.
    Für ihre Arbeit bekommen die Häftlinge Geld – nicht viel, ein paar Dutzend Rubel (für jene, die die Norm überbieten), aber sie bekommen es. Wer die Norm nicht erfüllt, bekommt nichts. Für diese wenige Dutzend Rubel kann der Arbeiter im Lagerladen, dem Lädchen, Brot einkaufen, manchmal Butter – kurz, seine Ernährung irgendwie aufbessern. Das Geld bekommen nicht alle Brigaden, aber einige bekommen es. In den Bergwerken, in denen Ganoven arbeiten, ist dieser Lohn nur fiktiv – die Ganoven ziehen das Geld ein, belegen die Arbeiter mit einer »Steuer«. Wird nicht rechtzeitig gezahlt – ein Messer in die Rippen. Über Jahre werden diese unvorstellbaren »Abführungen« geleistet. Alle wissen von dieser offenen Erpressung. Übrigens, wenn es die Ganoven nicht tun, zieht man die Abführungen zugunsten der Brigadiere, Arbeitsnormer, Arbeitsanweiser ein …
    Das ist der wahre lebendige Inhalt des Begriffs der »Gefängnisration«.
    1959

Der »
suki
«-Krieg
    Der diensthabende Arzt wurde in die Aufnahme gerufen. Auf den frischgewischten, leicht bläulichen, mit dem Messer abgeschabten Fußbodendielen krümmte sich ein braungebrannter tätowierter Körper – ein von den Sanitätern nackt ausgezogener Verletzter. Das Blut befleckte den Boden, und der diensthabende Arzt lächelte schadenfroh – ihn sauber zu bekommen wird schwierig werden; der Arzt freute sich über alles Schlechte, das ihm begegnete und vor Augen kam. Über den Verletzten beugten sich zwei Sanitäter in weißen Kitteln: der Feldscher der Aufnahme, der ein Tragbrett mit Verbandsmaterial hielt, und ein Leutnant aus der Spezialeinheit mit Papier in der Hand.
    Der Arzt begriff sofort, dass der Verletzte keine Papiere hatte und der Leutnant der Spezialeinheit irgendwelche Informationen über den Verletzten bekommen wollte.
    Die Wunden waren noch frisch, einige bluteten. Es waren viele Wunden – mehr als ein Dutzend winziger Wunden. Der Mann war vor Kurzem mit einem kleinen Messer oder einem Nagel oder etwas anderem gestochen worden.
    Der Arzt erinnerte sich, wie bei seinem letzten Dienst vor zwei Wochen die Verkäuferin des Ladens umgebracht worden war, umgebracht in ihrem Zimmer, mit einem Kissen erstickt. Der Mörder hatte sich nicht unbemerkt entfernen können, man schlug Alarm, und der Mörder sprang mit gezogenem Dolch hinaus in den Frostnebel. Als er am Laden, an der Warteschlange vorbeilief, stieß der Mörder dem letzten den Dolch ins Gesäß – aus Bosheit, weiß der Teufel warum …
    Aber diesmal war es etwas anderes. Die Zuckungen des Verletzten beruhigten sich, die Wangen wurden bleich. Der Arzt begriff, dass es sich hier um eine innere Blutung handelte – denn auch auf dem Bauch gab es kleine, besorgniserregende, nicht blutende Wunden. Die Wunden konnten innen sein, im Darm, in der Leber …
    Aber der Arzt zögerte, sich in den Ritus der Registratur einzumischen. Man musste um jeden Preis die »Basisdaten« erhalten – Nachname, Vorname, Vatersname, Artikel, Haftzeit –, Antwort auf die Fragen erhalten, die man jedem Häftling zehnmal am Tag stellt – beim Appell, beim Ausrücken …
    Der Verletzte antwortete etwas, und der Leutnant schrieb eilig das Mitgeteilte auf einen Fetzen Papier. Schon bekannt waren der Nachname wie der Artikel – achtundfünfzig, Punkt vierzehn … Es blieb die wichtigste Frage, und auf die Antwort darauf warteten alle, der Leutnant, der Feldscher der Aufnahme wie der diensthabende Arzt …
    »Was bist du? Was?«, rief, neben dem Verletzten kniend, aufgeregt der Leutnant.
    »Was?«
    Und der Verletzte hatte die Frage verstanden. Seine Lider zitterten, die zerbissenen, trockenen Lippen öffneten sich, und der Verletzte atmete gedehnt aus:
    »Eine
ssu-u-ka
…«
    Und verlor das Bewusstsein.
    »Eine
suka
!«, rief der Leutnant begeistert, stand auf und säuberte sich mit den Händen die Knie.
    »Eine
suka
! Eine
suka
!«, wiederholte freudig der Feldscher.
    »In Nummer sieben, Nummer sieben Chirurgie!«, jetzt wurde der Arzt geschäftig. Man konnte ans Anlegen des Verbandes gehen. Der siebte Saal war ein »
suka
«-Saal.
    Viele Jahre nach dem Ende des Krieges waren in der kriminellen Welt, am tiefsten Punkt des menschlichen Meeres die blutigen Unterwasser-Wellen noch nicht abgeebbt. Diese Wellen waren eine Folge des Krieges – eine erstaunliche,

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