Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Ausdruck der Ganoven), die im Grunde niemals flüchteten, sondern sich an der Trasse der Autostraße von zweitausend Kilometern Länge versteckten und durchfahrende Fahrzeuge plünderten. Besonders zur Last gelegt wurden den Flüchtigen nicht die Flucht als solche, auch nicht die Räuberei an der großen Straße. Die Juristen sahen in der Flucht ein Drücken vor der Arbeit und behandelten diese Fluchten als konterrevolutionäre Sabotage, als Arbeitsverweigerung – das größte Verbrechen im Lager. Mit den vereinten Kräften der Juristen und der Denker aus der Lagerverwaltung wurde der kriminelle Rückfall schließlich irgendwie in den Rahmen des schlimmsten, des Artikels achtundfünfzig gepresst.
    Worin besteht der Katechismus der Diebe? Ein Dieb, Mitglied der Verbrecherwelt – diese Definition der »Verbrecherwelt« stammt von den Dieben selbst – muss stehlen, die »
frajer
« betrügen, trinken, feiern, Karten spielen, darf nicht arbeiten, muss an den »
prawilki
«, das heißt den »Ehrengerichten« teilnehmen. Das Gefängnis ist für den Dieb zwar nicht das eigene Haus, keine »Gaise«, oder »Maline« oder »Spelunke«, aber der Ort, an dem der Dieb die meiste Zeit seines Lebens verbringen muss. Daraus ergibt sich der wichtige Schluss, dass sich die Ganoven im Gefängnis – mit Gewalt, Schläue, Dreistigkeit und durch Betrug – inoffizielle, aber wichtige Rechte sichern müssen, beispielsweise das Aufteilen der fremden Übergaben oder fremder Kleidungsstücke, das Recht auf den besten Platz, auf das beste Essen etc. Praktisch gelingt das immer, wenn in der Zelle mehrere Diebe sitzen. Eben sie verschaffen sich alles, was man sich im Gefängnis verschaffen kann. Dank dieser »Traditionen« kann der Dieb im Gefängnis und im Lager besser leben als alle anderen.
    Die kurze Haftzeit, die häufigen Amnestien hatten den Dieben die Möglichkeit gegeben, die Zeit der Haft einigermaßen sorgenfrei zu verbringen, ohne zu arbeiten. Wer als einziges arbeitete, und nur ab und zu, waren die Spezialisten – Schlosser, Mechaniker. Kein einziger Dieb machte »schmutzige« Arbeit. Dann sitzt er lieber im Karzer, im Lagerisolator …
    Der Erlass von 1947 mit seinen zwanzig Jahren Haft für geringfügige Verbrechen stellte die Diebe auf neue Weise vor das Problem der »Beschäftigung«. Während der Dieb früher hoffen konnte, sich ein paar Monate oder ein, zwei Jahre ohne Arbeit irgendwie durchzuschlagen, so musste er jetzt faktisch das ganze oder zumindest das halbe Leben im Gefängnis verbringen. Und das Leben des Diebes ist kurz. »Paten« – Alte gibt es unter den »
urki
« wenige. Die Diebe leben nicht lang. Die Sterblichkeit unter den Dieben ist erheblich höher als die durchschnittliche Sterblichkeit im Land.
    Der Erlass von 1947 stellte die »Verbrecherwelt« vor ernste Probleme, und die besten Ganovenköpfe suchten angespannt nach einer verlässlichen Lösung dieser Frage.
    Nach dem Gesetz der Diebe darf der Dieb in der Haft keinerlei Posten in der Lagerverwaltung einnehmen, deren Erfüllung auf Häftlinge übertragen wird. Weder Arbeitsanweiser, noch starosta noch Vorarbeiter darf der Dieb sein. Damit begäbe er sich gewissermaßen in die Reihen derer, mit denen der Dieb sein Leben lang in Feindschaft lebt. Ein Dieb, der einen solchen Verwaltungsposten annimmt, ist kein Dieb mehr und macht sich zur »
suka
«, wird zur »
suka
«, stellt sich außerhalb des Gesetzes, und jeder Ganove wird es für eine Ehre halten, einen solchen Renegaten bei passender Gelegenheit abzuschlachten.
    Die Pedanterie der Verbrecherwelt in dieser Frage ist sehr groß, die rechtgläubigen Auslegungen einiger komplizierter Angelegenheiten erinnern an die feine und verwickelte Logik des Talmud.
    Ein Beispiel: ein Dieb geht an der Wache vorbei. Der diensthabende Aufseher ruft: »Hej, schlag doch ans Gleisstück, läute, du gehst ja gerade daran vorbei …« Wenn der Dieb ans Gleisstück schlägt, das Signal zum Wecken und zum Appell, hat er schon das Gesetz verletzt und sich zur »
suka
« gemacht.
    Die »
prawilki
« oder »Ehrengerichte«, in denen »die Rechte durchgedrückt« werden, sind auch vor allem mit der Prüfung von Angelegenheiten und Verstößen beschäftigt, die gerade mit dem Verrat der eigenen Fahne und der »juristischen« Deutung dieser oder jener verdächtigen Handlung zu tun haben. Schuldig oder unschuldig? Eine bejahende Antwort der »Ehrengerichte« zieht gewöhnlich und fast unverzüglich – die blutige Abrechnung

Weitere Kostenlose Bücher