Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
unerwartete Folge. Niemand, weder die weißhaarigen Strafrechtler noch die Veteranen der Gefängnisverwaltung noch die vielerfahrenen Lagerchefs hatten voraussehen können, dass der Krieg die kriminelle Welt in zwei feindliche Gruppen teilen würde.
Während des Kriegs hatte man viele in den Gefängnissen einsitzende Verbrecher, darunter auch zahlreiche Diebe – Rückfalltäter, »
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« – in die Armee geholt und an die Front geschickt, in Marschkompanien. Die Rokossowskij -Armee erwarb Bekanntheit und Popularität eben durch ihr kriminelles Element. Aus den
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wurden verwegene Aufklärer, kühne Partisanen. Eine natürliche Neigung zum Risiko, ihre Entschlossenheit und Dreistigkeit machte sie zu wertvollen Soldaten. Vor dem Marodieren, dem Drang zu plündern drückte man ein Auge zu. Allerdings wurde der abschließende Sturm Berlins nicht diesen Einheiten anvertraut. Die Rokossowskij-Armee wurde auf ein anderes Ziel gelenkt, und in den Tiergarten setzte sich der Kadertruppenteil von Marschall Konew in Bewegung – die Regimenter mit dem reinsten proletarischen Blut.
Der Schriftsteller Werschigora versichert uns in »Menschen mit reinem Gewissen«, dass er einen
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– Woronko – kennt, aus dem ein tüchtiger Partisan wurde (wie in den Büchern von Makarenko ).
Kurz, die Kriminellen gingen aus den Gefängnissen an die Front und kämpften dort – der eine gut, der andere schlecht … Es kam der Tag des Sieges, die Helden, die
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wurden demobilisiert und kehrten zu ihren friedlichen Beschäftigungen zurück.
Bald sahen die sowjetischen Gerichte der Nachkriegszeit in ihren Verhandlungen alte Bekannte. Wie sich zeigte – und das vorauszusehen war nicht schwer gewesen –, dachten die Rückfalltäter, »
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«, »Diebe«, »Menschen«, die »Verbrecherwelt« gar nicht daran, jene Dinge einzustellen, die ihnen vor dem Krieg die Mittel zum Leben, schöpferische Erregung, Momente der Inspiration und auch eine Position in der »Gesellschaft« gesichert hatten.
Die Banditen kehrten zurück zu den Morden, die »Panzerknacker« – zum Aufbrechen unbrennbarer Schränke, die Taschendiebe zum Erforschen der Brusttaschen an den »Kluften«, die »Einschleichdiebe« zu Wohnungsdiebstählen.
Der Krieg hatte die Dreistigkeit und Unmenschlichkeit in ihnen eher befestigt, als ihnen irgendetwas Gutes beizubringen. Ihr Verhältnis zum Mord war noch sorgloser, noch unkomplizierter geworden als vor dem Krieg.
Der Staat versuchte, den Kampf gegen die wachsende Kriminalität zu organisieren. 1947 ergingen die Erlasse »Zum Schutz des sozialistischen Eigentums« und »Zum Schutz des persönlichen Eigentums der Bürger«. Gemäß diesen Erlassen wurde ein geringfügiger Diebstahl, für den der Dieb früher ein paar Monate ins Gefängnis kam, jetzt mit 20 Jahren bestraft.
Die Diebe, ehemalige Teilnehmer am Vaterländischen Krieg, wurden zu Zehntausenden auf Dampfer und Züge geladen und unter strengstem Geleit in die zahlreichen Arbeitslager geschickt, die ihre Tätigkeit während des Kriegs auch nicht eine Minute eingestellt hatten. Zu jener Zeit gab es sehr viele Lager. Sewlag, Sewwostlag, Sewsaplag , jedes Gebiet, jede große oder kleine Baustelle hatten ihre Lagerabteilungen. Neben winzigen Verwaltungen, die kaum tausend Mann überschritten, gab es auch Lagergiganten mit einer Bevölkerung von – zu ihrer Blütezeit – einigen Hunderttausend Mann: Bamlag, Tajschetlag, Dmitlag, Tjomniki, Karaganda …
Die Lager füllten sich schnell mit Kriminellen. Mit besonderer Aufmerksamkeit wurden zwei große ferne Lager beschickt – Kolyma und Workuta . Die raue Natur des Hohen Nordens, der Dauerfrostboden, der acht-, neunmonatige Winter in Verbindung mit dem zielbewussten Regime schufen komfortable Bedingungen für die Liquidierung der Kriminellen. Stalins Experiment von 1938 an den »Trotzkisten« war ein voller Erfolg gewesen und allen gut im Gedächtnis.
An die Kolyma und nach Workuta kam Transport um Transport mit Verurteilten gemäß den Erlassen von 1947. Zwar waren die Ganoven im Sinne der Arbeit wenig wertvolles Material und zur Kolonisierung des Landes wohl kaum besonders geeignet, dafür war es fast unmöglich, aus dem Hohen Norden zu fliehen. Also war das Problem der Isolierung verlässlich gelöst. Übrigens waren diese geographischen Besonderheiten des Hohen Nordens an der Kolyma Grund für das Auftreten einer besonderen Kategorie von Flüchtigen (von »ins Eis Gegangenen« – so der bildhafte
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