Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
einer nach dem anderen rollten. Ein neuer Chef mit polierten Nägeln erschien in der entlegenen Tajga, wo es seit Erschaffung der Welt niemals irgendwelchen Schmutz gegeben hatte, erschien mit Familie, mit Frau und drei Kindern wie die Orgelpfeifen. Die Kinder und die Frau durften das Haus nicht verlassen, in dem Bogdanow wohnte – sodass ich Bogdanows Familie nur zwei Mal sah, am Tag ihrer Ankunft und am Tag ihrer Abreise.
Die Lebensmittel brachte der Gerätewart täglich ins Haus des Chefs, und das Zweihundertliterfass Alkohol wurde von den Arbeitern auf Brettern, einer Holzbahn, die für diesen Zweck in der Tajga verlegt war, in die Wohnung des Chefs gerollt. Denn Alkohol – das war das Wichtigste, das man lagern musste, das hatte man Bodganow an der Kolyma gelehrt. Einen Hund? Nein, Bogdanow hatte keinen Hund. Weder Hund, noch Katze.
In der Prospektierung gab es eine Wohnbaracke und die Zelte der Arbeiter. Alle wohnten zusammen – die freien Arbeitskräfte und die seki . Einen Unterschied zwischen ihnen gab es weder bei den Liegen noch bei den Gebrauchsgegenständen, denn die Freien, die Häftlinge von gestern, hatten sich noch keine Koffer zugelegt, jene selbstgemachten Häftlingskoffer, die jeder
seka
kennt.
Im Tagesablauf, dem »Regime«, gab es auch keinen Unterschied, denn der vorige Chef, der viele, viele Gruben eröffnet hatte und fast seit Erschaffung der Welt an der Kolyma war, konnten all diese »zu Befehl« und »ich melde« aus irgendeinem Grund nicht leiden. Unter Paramonow, so hieß der vorige Chef, hatten wir keine Kontrollen – wir standen auch so mit Sonnenaufgang auf und gingen mit Sonnenuntergang schlafen. Übrigens verschwand die Polarsonne im Frühling und Frühsommer nie vom Himmel – was dann also für Kontrollen? Die Tajganacht ist kurz. Auch den Chef zu »begrüßen« hatte man uns nicht beigebracht. Und wem man es doch beigebracht hatte, der vergaß diese erniedrigende Lektion bereitwillig und schnell. Darum schrie niemand »Achtung!«, als Bogdanow die Baracke betrat, und einer der neuen Arbeiter, Rybin, flickte weiter seinen zerrissenen Segeltuchmantel.
Bogdanow war empört. Er schrie, dass er Ordnung einführen werde unter den Faschisten. Dass die Politik der Sowjetmacht eine doppelte sei – zu bessern und zu strafen. So dass er, Bogdanow, verspreche, das letztere in vollem Maße an uns zu erproben, dass kein fehlender Begleitposten uns helfen werde. An Barackenbewohnern, jenen Häftlingen, an die sich Bogdanow wandte, gab es fünf oder sechs – eigentlich fünf, denn auf dem fünften Platz saßen abwechselnd die beiden Nachtwächter.
Im Gehen riss Bogdanow an der Holztür des Zelts – er wollte die Tür zuknallen, aber das ergebene Zelttuch begann nur lautlos zu wogen. Am nächsten Morgen wurde uns, fünf Häftlingen plus dem fehlenden Wächter, ein Befehl verlesen – der erste Befehl des neuen Chefs.
Der Sekretär des Chefs verlas uns mit lauter und gleichmäßiger Stimme das erste literarische Werk des neuen Chefs – »Befehl Nr. 1«. Paramonow hatte, wie sich herausstellte, nicht einmal ein Befehlebuch gehabt, und das neue Schulschreibheft von Bogdanows Tochter wurde zum Befehlebuch des Kohlereviers bestimmt.
»Wie ich festgestellt habe, sind die Häftlinge des Reviers außer Rand und Band und haben die Lagerdisziplin vergessen, was sich in ihrem Nichtaufstehen bei der Kontrolle und dem Nichtgrüßen des Chefs äußert.
Da ich dieses als Verletzung zentraler Gesetze der Sowjetmacht betrachte, fordere ich kategorisch …«
Dann folgte der »Tagesplan«, der Bogdanow von seiner früheren Arbeit im Gedächtnis geblieben war.
Mit demselben Befehl wurde ein Ältester eingesetzt und ein nebenamtlicher Barackendienst bestimmt. Die Zelte wurden mit einem Segeltuchvorhang unterteilt und die Reinen von den Unreinen getrennt. Den Unreinen war das gleichgültig, aber die Reinen, gestrige Unreine, verziehen Bogdanow diesen Schritt nie. Mit diesem Befehl war Feindschaft gesät zwischen den freien Arbeitern und dem Chef.
Von der Produktion verstand Bogdanow nichts, er wälzte alles auf den Einsatzleiter ab, und die gesamte Regelungswut des vierzigjährigen gelangweilten Chefs richtete sich gegen die sechs Häftlinge. Täglich fand er irgendwelche Vergehen und Verstöße gegen das Lagerregime, die an Verbrechen grenzten. Hals über Kopf wurde in der Tajga ein Karzer zusammengezimmert, beim Schmied Moissej Moissejewitsch Kusnezow wurde ein Eisenriegel für diesen Karzer in
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