Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
wenigstens einen Moment, wenigstens eine Stunde, wenigstens einen Tag lang die Goldmine, die verdammte Schinderei, die verhasste Arbeit los waren. Arbeit und Tod – das sind Synonyme, und Synonyme nicht nur für die Häftlinge, für die totgeweihten »Volksfeinde«: Arbeit und Tod sind Synonyme auch für die Lagerleitung und für Moskau – sonst hätte man in den »Spezialanweisungen«, den Moskauer Marschbefehlen in den Tod, nicht geschrieben: »Einsatz nur zu schwerer physischer Arbeit«.
Man brachte uns in die RUR als Faulenzer, als Drückeberger, als Leute, die die Norm nicht erfüllt haben. Aber nicht als Arbeitsverweigerer. Arbeitsverweigerung im Lager ist ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wird. Für dreimal Arbeitsverweigerung, dreimal nicht Ausrücken wird man erschossen. Drei Einträge. Wir verließen die Lagerzone und krochen an unsere Arbeitsstelle. Für die Arbeit blieb uns keine Kraft. Aber – wir waren keine Verweigerer.
Man brachte uns an die Wache. Der diensthabende Aufseher stieß mir die Faust in die Brust, und ich kam ins Wanken und konnte mich kaum auf den Beinen halten – der Schlag mit dem Revolver hatte mir eine Rippe gebrochen. Der Schmerz hielt mehrere Jahre an. Übrigens war es kein Bruch, wie mir Spezialisten später erklärten. Es war einfach die Knochenhaut gerissen.
Man brachte uns in die RUR, aber die RUR war nicht an ihrem Ort. Was ich sah, war noch lebendige Erde, steinige schwarze Erde, bedeckt mit verkohlten Baumwurzeln, mit von menschlichen Körpern polierten Baum- oder Strauchwurzeln. Ich sah ein schwarzes Rechteck verkohlter Erde, das vom wilden Grün des kurzen, leidenschaftlichen Sommers an der Kolyma ebenso abstach wie vom toten weißen, nicht endenden Winter. Die schwarze Grube der Lagerfeuer, eine Spur von Wärme, eine Spur menschlichen Lebens.
Die Grube war lebendig. Menschen rückten Balken, hasteten und fluchten, und vor meinen Augen entstand eine erneuerte RUR, die Wände einer Strafbaracke. Man erklärte es uns sofort. Gestern hatte man den betrunkenen Verkaufsstellenleiter, einen
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, in die Gemeinschaftszelle der RUR gesetzt. Der betrunkene Verkaufsstellenleiter hat natürlich die gesamte RUR-Baracke in ihre Einzelbalken zerlegt, das gesamte Gefängnis. Der Posten schoss nicht. Der da tobte, war ein
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– die Posten kannten sich im Strafrecht, in der Lagerpolitik und selbst in den Launen der Führung hervorragend aus. Der Posten schoss nicht. Der Verkaufsstellenleiter wurde weggebracht und in den Karzer beim Wachtrupp gesetzt. Aber selbst der Verkaufsstellenleiter und »
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«, ein offensichtlicher Held, wollte diese schwarze Grube nicht verlassen. Er hat nur ihre Wände zerlegt. Und die hundert Leute mit Artikel 58, mit denen die RUR vollgestopft war, stellten jetzt sorgsam und eilig ihr Gefängnis wieder her, zogen Wände hoch und passten auf, dass sie den Rand der Grube nicht überschreiten, nicht versehentlich auf den weißen, vom Menschen noch unberührten Schnee treten.
Die 58er beeilten sich, ihr Gefängnis wieder aufzubauen. Antreiben und Drohen war nicht nötig.
Hundert Mann hausten auf den Pritschen, dem Gerippe der abgerissenen Pritschen. Eigentliche Pritschen gab es nicht, alle Rundhölzer, alle Stangen, aus denen die Pritschen zusammengefügt waren – ohne einen einzigen Nagel, ein Nagel ist an der Kolyma eine Kostbarkeit –, die Pritschen hatten die in der RUR einsitzenden Ganoven verbrannt. Ein 58er hätte gezögert, auch nur ein Stückchen von seiner Pritsche abzubrechen, um seinen durchgefrorenen Körper, seine bindfadengleichen ausgezehrten Muskeln zu wärmen.
Unweit der RUR stand, genauso verrußt wie die RUR, das Gebäude der Wachtruppe. Die Baracke der Wachsoldaten unterschied sich äußerlich nicht von der Häftlingsbehausung, und auch innen gab es keinen großen Unterschied. Schmutziger Rauch, im Fenster Sackleinen anstelle von Glas. Und doch – es war die Baracke der Wachsoldaten.
Die RUR ging zur Arbeit. Aber nicht ins Goldbergwerk, sondern zum Holzfällen, zum Ausheben von Gräben, zum Weg-Austreten. Die Verpflegung war bei der RUR für alle gleich, und auch das war eine Freude. Der Arbeitstag endete bei der RUR früher als im Bergwerk. Wie oft haben wir neidisch geschaut und gesehen, die Augen von der Schubkarre, von der Schürfgrube, von Hacke und Schaufel erhebend, wie die ungeordneten Kolonnen der RUR sich zu ihrem Nachtquartier bewegten. Unsere Pferde wieherten, wenn sie die RUR-Leute sahen, und
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