Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Kohlereviers, dem Bogdanow die Geschäfte innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu übergeben habe. Er bat, den Befehl zu verlesen. Bogdanow zog sich an, kam nach draußen und bat den Fremden in seine Wohnung. Der Gast lehnte ab und erklärte, er gehe sofort an die Übernahme des Reviers.
Die Neuigkeit verbreiterte sich augenblicklich. Das Kontor füllte sich mit nichtangekleideten Leuten.
»Wo ist hier der Alkohol?«
»Bei mir.«
»Lassen Sie ihn herbringen.«
Der Sekretär Kartaschow und der Barackendienst brachten eine Blechkanne.
»Und das Fass?«
Bogdanow stammelte Unverständliches.
»Gut. Plombieren Sie die Kanne.« Der Fremde versiegelte den Behälter. »Geben Sie mir Papier für das Protokoll.«
Am Abend des folgenden Tages fuhr Bogdanow, frisch rasiert, parfümiert und fröhlich mit den bemalten Pelzhandschühchen winkend, ins »Zentrum«. Er war vollkommen nüchtern.
»Ist das nicht der Bogdanow, der in der Flussverwaltung war?«
»Bestimmt nicht. In diesem Dienst ändern sie ihre Namen, vergessen Sie das nicht.«
1965
Ingenieur Kisseljow
Ich konnte die Seele von Ingenieur Kisseljow nicht verstehen. Ein junger Ingenieur von dreißig Jahren, ein tatkräftiger Mann, der soeben die Hochschule abgeschlossen hatte und in den Hohen Norden gekommen war, um die obligatorischen drei Jahre Berufspraxis abzuleisten. Einer der wenigen Natschalniks, die Puschkin, Lermontow, Nekrassow gelesen hatten – davon erzählte seine Bibliothekskarte. Und vor allem war er parteilos, also nicht in den Hohen Norden gekommen, um etwas zu kontrollieren, auf Befehl von oben. Kisseljow, der auf seinem Lebensweg niemals Häftlingen begegnet war, überbot mit seinen Schlächtereien sämtliche Schlächter.
Kisseljow prügelte persönlich Häftlinge und war seinen Vorarbeitern, Brigadieren und Begleitposten darin ein Vorbild. Nach der Arbeit fand Kisseljow keine Ruhe – er lief von Baracke zu Baracke und suchte nach einem Menschen, den er ungestraft beleidigen, schlagen, prügeln konnte. Zweihundert solcher Menschen standen zu Kisseljows Verfügung. Eine dunkle sadistische Mordlust lebte in Kisseljows Seele und fand in der Eigenmächtigkeit und Willkür des Hohen Nordens zu Ausdruck, Entwicklung und Wachstum. Und nicht einfach umhauen – dafür waren viele der kleinen und großen Chefs an der Kolyma zu haben, die es in den Fingern juckte, die sich Luft machen wollten und schon im nächsten Moment den ausgeschlagenen Zahn, das blutverschmierte Gesicht vergessen hatten – während der Häftling sich an diesen von der Leitung vergessenen Schlag ein Leben lang erinnerte. Nicht einfach schlagen, sondern umhauen und treten, den Halbtoten mit den beschlagenen Stiefeln treten. So mancher Häftling hat in seinem Gesicht die Eisen von Kisseljows Stiefelsohlen und Absätzen gesehen.
Wer liegt heute unter Kisseljows Stiefeln, wer sitzt im Schnee? Selfugarow. Das ist mein oberer Abteilnachbar aus dem Zug, der geradewegs in die Hölle fuhr – ein achtzehnjähriger Junge von schwächlichem Körperbau mit schwindenden Muskeln, vorzeitig schwindenden Muskeln. Selfugarows Gesicht ist blutüberströmt, und nur an den schwarzen buschigen Augenbrauen erkenne ich meinen Nachbarn: Selfugarow ist Türke und Falschmünzer. Ein Falschmünzer nach Artikel 59-12 und noch am Leben – das glaubt dir kein einziger Staatsanwalt, kein einziger Untersuchungsführer, denn auf Falschmünzerei kennt der Staat nur eine Antwort – den Tod. Aber Selfugarow war ein Junge von sechzehn Jahren, als das Ganze passierte.
»Wir haben gutes Geld gemacht – von echtem nicht zu unterscheiden«, flüsterte Selfugarow, von Erinnerungen bewegt, in der Baracke – einem geheizten Zelt, in das man unter der Segeltuchplane ein Sperrholzgerüst eingezogen hat; auch solche Dinge wurden erfunden. Vater, Mutter und zwei Onkels von Selfugarow waren erschossen worden, aber der Junge überlebte – im Übrigen wird er bald sterben, dafür bürgen Stiefel und Fäuste des Ingenieurs Kisseljow.
Ich beuge mich über Selfugarow, und der spuckt seine ausgeschlagenen Zähne direkt in den Schnee. Sein Gesicht schwillt zusehends.
»Gehen Sie, gehen Sie, wenn Kisseljow das sieht, wird er ärgerlich«, Ingenieur Wronskij, ein Bergarbeiter aus Tula, in Twer geboren, stößt mir in den Rücken – das letzte Modell der Schachty-Prozesse. Ein Denunziant und Schurke.
Über schmale, in den Berg gehauene Stufen steigen wir an unseren Arbeitsplatz. Das sind die Schacht-»Einschnitte«. Ein
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