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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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forderten das Ende der Arbeit. Aber vielleicht wussten die Pferde die Zeit auch selbst – besser als die Menschen, vielleicht brauchten die Pferde eine RUR gar nicht zu sehen …
    Und jetzt hüpfte ich selbst, mal einfallend in den allgemeinen Takt, mal nicht, mal überholend, mal zurückbleibend. Ich wollte nur eins – dass die RUR niemals endet. Ich wusste nicht, für wie lange – für zehn, für zwanzig, für dreißig Tage – ich »festgesetzt« war in der RUR.
    »Festgesetzt« – diesen Gefängnisterminus kannte ich gut. Ich glaube, das Verb »festsetzen« verwendet man nur in Internierungsorten. Dafür hat die Wendung »freisetzen« den breiten diplomatischen Weg beschritten – »freigesetzt vom Territorium« und so weiter. Man hatte diesem Verb eine drohend-höhnische Färbung geben wollen, aber das Leben verändert die Maßstäbe, und in unserem Fall klang »festsetzen« beinahe wie »retten«.
    Jeden Tag nach der Arbeit »trieb« man die RUR-Leute zum Holzholen »für den Eigengebrauch«, wie die Leitung sagte. Übrigens wurden auch Schürfbrigaden losgeschickt. Man fuhr mit Zugschlitten, deren Gurte für Menschen hergerichtet waren – Drahtschlingen, durch die man Kopf und Schultern stecken konnte, dann den Gurt zurechtrücken und ziehen, ziehen. Man musste den Schlitten sicher vier Kilometer den Berg hinauf ziehen, dort lagen Stapel von im Sommer vorbereitetem Krummholz – schwarzes buckliges leichtes Krummholz. Die Schlitten wurde beladen und gleich den Berg hinunter geschickt. Auf den Schlitten saßen die Ganoven – die noch Kräfte hatten – und fuhren lachend bergab. Und wir rutschten, uns fehlten die Kräfte, bergab zu laufen. Aber wir rutschten schnell, und zum Bremsen klammerten wir uns an gefrorene, abgebrochene Purpurweiden- oder Erlenzweige. Das war eine Freude – der Tag ging zu Ende.
    Der Weg zum Holz, zu den schneebedeckten Krummholzstapeln, verlängerte sich mit jedem Tag immer mehr, aber wir murrten nicht – die Fahrt zum Holz war wie der Schlag ans Gleisstück oder der Sirenenton – Signal zum Essen, zum Schlafen.
    Wir luden das Holz ab und gingen freudig zum Antreten.
    »Ke…ehrt!«
    Niemand drehte sich um. In den Augen aller sah ich eine tödliche Melancholie, die Unsicherheit von Menschen, die nicht an einen Erfolg glauben – sie werden immer geprellt, betrogen, übers Ohr gehauen. Auch wenn Brennholz kein Stein ist, der Schlitten keine Schubkarre …
    »Ke …ehrt!«
    Niemand drehte sich um. Häftlinge reagieren äußerst empfindlich auf ein nichtgehaltenes Versprechen, selbst wenn, so sollte man meinen, von Gerechtigkeit keine Rede sein konnte.
    Aus der Baracke der Wachtruppe schoben sich zwei Männer auf die Vortreppe – der Lagerchef, ein schon älterer Leutnant, und der Chef der Wachtruppe, ein jüngerer Leutnant. Nichts ist schlimmer, als wenn zwei Chefs etwa gleichen Dienstgrads nebeneinander wirken, einer unter den Augen des anderen. Alles Menschliche in ihnen erstirbt, und jeder will »Wachsamkeit« beweisen, keine »Schwäche« zeigen, die staatliche Order ausführen.
    »In die Schlitten einspannen.«
    Niemand drehte sich um.
    »Das ist ja eine organisierte Kundgebung!«
    »Diversion!«
    »Geht ihr nicht im Guten?«
    »Wir brauchen Ihr Gutes nicht.«
    »Wer hat das gesagt? Vortreten!«
    Niemand trat vor.
    Auf ein Kommando kamen aus der Baracke weitere Begleitposten gelaufen und umringten uns, im Schnee versinkend, mit den Gewehrschlössern klappernd, keuchend vor Erbitterung über die Leute, die den Begleitposten die Erholung, die Schicht, den Dienstplan nahmen.
    »Hinlegen!«
    Wir legten uns in den Schnee.
    »Auf!«
    Wir standen auf.
    »Hinlegen!«
    Wir legten uns.
    »Auf!«
    Wir standen auf.
    »Hinlegen!«
    Wir legten uns.
    Diesen einfachen Rhythmus erfasste ich mühelos. Und erinnere mich gut: mir war weder kalt noch heiß. Als ob man all das nicht mit mir machte.
    Ein paar Schüsse knallten, Warnschüsse.
    »Auf!«
    Wir standen auf.
    »Wer gehen will – nach links.«
    Niemand rührte sich.
    Ein Natschalnik trat dicht an uns heran, bis an die Melancholie in diesen irren Augen. Er trat heran und stieß den Nächststehenden in die Brust.
    »Du – gehst?«
    »Ja.«
    »Nach links abtreten.«
    »Du – gehst?«
    »Ja!«
    »Einspannen! Begleitposten, übernehmen, die Leute zählen.«
    Die hölzernen Schlittenkufen knirschten.
    »Los!«
    »So macht man das«, sagte der ältere Leutnant.
    Doch es fuhren nicht alle. Zwei blieben: Serjosha Usolzew und ich. Serjosha

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