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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Auftrag gegeben, und die Frau des Chefs opferte ein eigenes Vorhängeschloss. Das Schloss war sehr nützlich. Jeden Tag wurde irgendein Häftling in den Karzer gesetzt. Es gab Gerüchte, dass bald Begleitposten herkommen würden, ein Wachtrupp.
    Den Wodka aus der Polarration bekamen wir nicht mehr. Für Zucker und Machorka wurden Normen aufgestellt.
    Allabendlich wurde irgendein
seka
ins Kontor einbestellt – zur Unterredung mit dem Revierchef. Auch ich wurde einbestellt. In meiner voluminösen Lagerakte blätternd, las mir Bogdanow Auszüge aus den zahlreichen Memoranden vor und begeisterte sich maßlos an ihren Wendungen und ihrem Stil. Und manchmal war mir, als fürchte Bogdanow, das Lesen zu verlernen – in der Wohnung des Chefs gab es, außer ein paar abgegriffenen Kinderbüchern, kein einziges Buch.
    Plötzlich sah ich mit Erstaunen, dass Bogdanow einfach stark betrunken war. Der Geruch des billigen Parfums mischte sich mit Schnapsgeruch. Seine Augen waren glanzlos und trübe, aber die Sprache war klar. Übrigens war alles, was er sagte, vollkommen gewöhnlich.
    Am Tag darauf fragte ich den Freien Kartaschow, den Sekretär des Chefs, ob so etwas sein kann …
    »Und das merkst du erst jetzt? Er ist immer betrunken. Jeden Morgen schon. Viel trinkt er nicht, aber wenn er merkt, dass der Rausch vergeht – noch ein halbes Glas. Der Rausch vergeht – und noch ein halbes Glas. Er schlägt seine Frau, der Schurke«, sagte Kartaschow. »Deshalb zeigt sie sich auch nie. Es ist ihr peinlich, die blauen Flecken vorzuzeigen.«
    Bogdanow prügelte nicht nur seine Frau. Er schlug Schatalin, schlug Klimowitsch. An mich war die Reihe noch nicht gekommen. Aber irgendwann abends wurde ich wieder ins Kontor gerufen.
    »Warum?«, fragte ich Kartaschow.
    »Ich weiß nicht.« Kartaschow war Kurier, Sekretär und auch Karzerchef.
    Ich klopfte und trat ins Kontor.
    Bogdanow saß am Tisch, vor dem großen dunklen Spiegel, den man ins Kontor geschleppt hatte, und frisierte sich und machte sich zurecht.
    »Ah, der Faschist«, sagte er und drehte sich zu mir. Ich hatte die vorgeschriebene Anrede noch nicht aussprechen können.
    »Wirst du arbeiten oder nicht? So eine Stirn.« »Stirn« ist ein Ausdruck der Ganoven. Die übliche Formel, die übliche Unterredung …
    »Ich arbeite, Bürger Natschalnik.« Und das war die übliche Antwort.
    »Hier sind Briefe an dich gekommen, siehst du?« Zwei Jahre hatte ich mit meiner Frau nicht korrespondiert, ich konnte sie nicht erreichen, wusste nichts über ihr Schicksal und das Schicksal meiner anderthalbjährigen Tochter. Und plötzlich ihre Schrift, ihre Hand, ihre Briefe. Nicht einer – mehrere Briefe. Ich streckte die zitternden Hände nach den Briefen aus.
    Bodganow ließ die Briefe nicht aus den Händen, hielt mir die Umschläge vor die trockenen Augen.
    »Hier sind deine Briefe, Faschisten-Aas!« Bogdanow riss die Briefe meiner Frau in Fetzen und warf sie in den brennenden Ofen, die Briefe, auf die ich mehr als zwei Jahre gewartet, auf die ich inmitten des Bluts, der Erschießungen und der Schläge in den Goldbergwerken der Kolyma gewartet hatte.
    Ich drehte mich um, ging ohne die übliche Formel »darf ich abtreten«, und Bogdanows betrunkenes Gelächter klingt mir noch heute, nach vielen Jahren, in den Ohren.
    Der Plan wurde nicht erfüllt. Bogdanow war kein Ingenieur. Die freien Arbeiter hassten ihn. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein Alkoholtropfen, denn der Hauptkonflikt zwischen Chef und Arbeitern bestand darin, dass das Alkoholfass in die Wohnung des Chefs gewandert war und sich schnell leerte. Alles konnte man Bogdanow verzeihen – die Verhöhnung der Häftlinge, seine Hilflosigkeit in der Produktion und auch die Manieren des großen Herrn. Doch jetzt ging es um das Teilen des Alkohols, und die Bewohnerschaft der Siedlung trat mit dem Chef in einen offenen wie einen verdeckten Kampf.
    In einer Mondnacht im Winter erschien im Revier ein Mann in Zivil – in einfacher Ohrenmütze, in einem schäbigen Wintermantel mit Schafpelzkragen. Von der Straße, von der Chaussee, von der Trasse war das Revier zwanzig Kilometer entfernt, und der Mann war diesen Weg durch den winterlichen Fluss gelaufen. Der Ankömmling legte im Kontor ab und bat, Bogdanow zu wecken. Von Bogdanow kam die Antwort – morgen, morgen. Doch der Fremde ließ nicht locker, er bat Bogdanow aufzustehen, sich anzuziehen und ins Kontor zu kommen und erklärte, hier sei der neue Chef des

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