Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
schräg geschlagender Stollen, und nicht wenig Gestein wurde schon mit dem Seil herausgeholt – ein Gleis führt weit in die Tiefe hinab, wo gebohrt und abgehauen und das Gestein zutage gefördert wird.
Wronskij, ich und Sawtschenko, der Postbote aus Charbin, und auch der Lokomotivführer Krjukow – wir alle sind zu schwach, um Hauer zu sein, als dass man uns die Ehre erwiese, uns Hacke und Schaufel zu geben und die »verstärkte« Ration, die sich von unserer, der Produktions-Ration, wohl durch zusätzliche Grütze unterscheidet. Ich weiß genau, wie die Kategorien der Lagerverpflegung aussehen, welch schrecklichen Inhalt diese Prämien-Rationen haben, und beklage mich nicht. Die anderen – Neulinge – erörtern lebhaft die wichtigste Frage: Welche Verpflegungskategorie werden sie in der nächsten Dekade bekommen – Rationen und Essensmarken ändern sich jede Dekade. Welche? Für die »verstärkte« Ration sind wir zu schwach, die Muskeln unserer Arme und Beine haben sich längst in Seile verwandelt, in Bindfäden. Aber wir haben noch Muskeln auf dem Rücken, auf der Brust, wir haben noch Haut und Knochen, und wir scheuern uns Schwielen auf der Brust, um den Willen des Ingenieurs Kisseljow zu erfüllen. Alle vier haben wir Schwielen auf der Brust und weiße Flicken auf unseren schmutzigen, zerrissenen Westen, auf die Brust aufgenäht, als trügen wir alle dieselbe Häftlingsuniform.
Im Stollen ist ein Gleis verlegt, auf diesem Gleis lassen wir an einer Leine, an einem Hanfseil, eine Lore hinab – unten wird sie beladen, und wir ziehen sie wieder herauf. Per Hand könnten wir diese Lore natürlich nicht hochziehen, selbst wenn wir alle vier gleichzeitig zögen, gemeinsam, wie die Moskauer Pferdetrojkas vor den Fuhrwagen. Im Lager zieht jeder mit halber oder mit anderthalbfacher Kraft. Einträchtig kann man im Lager nicht ziehen. Aber wir haben eine Vorrichtung, dieselbe Vorrichtung, die schon die Alten Ägypter kannten und die es möglich machte, die Pyramiden zu bauen. Die Pyramiden und nicht irgendeinen Schacht, einen engen Schacht. Das ist die Pferdewinde. Nur werden hier anstelle der Pferde Menschen eingespannt – wir, und jeder von uns stemmt die Brust gegen seinen Balken und drückt, und die Lore kriecht langsam hinaus ins Freie. Dann lassen wir die Winde stehen, rollen die Lore an die Halde, entladen sie, ziehen sie zurück, stellen sie aufs Gleis und schieben sie in den schwarzen Rachen des Stollens.
Die blutigen Schwielen auf jeder Brust, die Flicken auf jeder Brust sind die Spuren des Balkens der Pferdewinde, der ägyptischen Winde.
Hier erwartet uns, die Hände in die Hüften gestemmt, der Ingenieur Kisseljow. Er passt auf, dass wir unsere Plätze einnehmen in diesem Gespann. Wenn er seine Papirossa aufgeraucht und die Kippe sorgfältig ausgetreten, mit den Stiefeln auf den Steinen zerrieben hat, geht Kisseljow. Und obwohl wir wissen, dass Kisseljow die Kippe absichtlich zerbröselt, zertreten hat, damit uns auch kein Krümelchen Tabak bleibt, denn der Einsatzleiter hat die geröteten hungrigen Augen gesehen und die Nasenlöcher der Häftlinge, die von fern den Rauch dieser Kisseljowschen Papirossa einziehen, können wir uns doch nicht beherrschen, rennen alle vier zu der zerfetzten, zertretenen Papirossa hin und versuchen, wenigstens einen Krümel, ein Tabakbrösel aufzusammeln, aber natürlich gelingt es uns nicht, auch nur einen Körnchen, ein Stäubchen aufzusammeln. Und wir alle haben Tränen in den Augen, und wir gehen zurück in unsere Arbeitspositionen – an die abgeschabten Balken der Pferdewinde, an die Drehwinde.
Es war Kisseljow, Pawel Dmitrijewitsch Kisseljow, der in Arkagala den Eiskarzer der 1938er-Zeiten wiederbelebte, den in den Fels, in den Dauerfrostboden gehauenen Eiskarzer. Im Sommer zog man die Menschen bis auf die Wäsche aus – gemäß den Sommervorschriften des GULag – und setzte sie barfuß, ohne Mütze, ohne Handschuhe in den Karzer. Im Winter schickte man sie bekleidet hinein – gemäß den Wintervorschriften. Viele Häftlinge, die nur eine Nacht in diesem Karzer waren, verabschiedeten sich für immer von ihrer Gesundheit.
Es wurde viel über Kisseljow gesprochen in den Barakken, in den Zelten. Das methodische, tägliche tödliche Prügeln war für viele, die die Schule von 1938 nicht durchlaufen hatten, zu entsetzlich, unerträglich.
Alle waren erschüttert, erstaunt oder auch verletzt von der persönlichen Mitwirkung des Abschnittschefs an diesen täglichen
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