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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Ehe?«
    »Ja.«
    »Und der Bräutigam Ihrer Tochter, der Marine-Attaché der Vereinigten Staaten, Kapitän ersten Ranges Tolly, bittet um Erlaubnis zur Ehe mit Ihrer Tochter?«
    »Ja.«
    »Dann laufen Sie zum Chef und beantragen Sie die Erlaubnis, einen Expressbrief loszuschicken.«
    »Aber ich will die Erlaubnis zur Ehe nicht geben. Und darüber möchte ich mich mit Ihnen auch beraten.«
    Ich war einfach erschüttert von diesen Briefen, diesen Geschichten, diesem Verhalten.
    »Wenn ich der Ehe zustimme, werde ich sie niemals mehr sehen. Sie wird mit Kapitän Tolly ausreisen.«
    »Hören Sie, Issaj Dawydowitsch. Sie sind bald siebzig. Ich halte Sie für einen vernünftigen Menschen.«
    »Das ist einfach ein Gefühl, ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Die Antwort schicke ich morgen. Es ist Zeit zu schlafen.«
    »Lassen Sie uns morgen das Ereignis lieber feiern. Essen wir die Grütze vor der Suppe. Und die Suppe – nach der Grütze. Wir können noch Brot rösten. Zwiebacke trocknen. Brot in Wasser kochen. Ja? Issaj Dawydowitsch?«
    Selbst ein Erdbeben hätte mich nicht am Schlafen gehindert. Am bewusstlosen Schlaf. Ich schloss die Augen und vergaß Kapitän Tolly.
    Am nächsten Tag schrieb Rabinowitsch einen Brief und warf ihn in den Briefkasten an der Wache.
    Bald wurde ich zum Gericht gefahren, abgeurteilt und ein Jahr später wieder in dieselbe Spezialzone gebracht. Einen Schal hatte ich nicht, und auch der Älteste war nicht mehr da. Ich kam an – ein gewöhnlicher Lager
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, ein menschlicher Docht ohne besondere Kennzeichen. Aber Issaj Rabinowitsch erkannte mich und brachte mir ein Stück Brot. Issaj Dawydowitsch hatte in der Wirtschaftsabteilung festen Fuß gefasst und gelernt, nicht an morgen zu denken. Das hatte ihn das Bergwerk gelehrt.
    »Sie waren doch hier, als meine Tochter geheiratet hat?«
    »Ja, natürlich.«
    »Die Geschichte hat eine Fortsetzung.«
    »Erzählen Sie.«
    »Kapitän Tolly hat meine Tochter geheiratet, da war ich, glaube ich, stehengeblieben«, begann Rabinowitsch zu erzählen. Seine Augen lächelten. »Drei Monate vergehen. Drei Monate hat Kapitän Tolly getanzt, und der Kapitän ersten Ranges Tolly bekommt ein Schlachtschiff im Stillen Ozean und reist an seinen neuen Einsatzort. Meiner Tochter, der Frau von Kapitän Tolly, gab man keine Ausreiseerlaubnis. Stalin betrachtete diese Ehen mit Ausländern als persönliche Beleidigung, und im Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten flüsterte man Kapitän Tolly zu: fahr allein, du hast dich ausgetobt in Moskau – und bravo, was hält dich hier? Heirate noch einmal. Kurz, hier die abschließende Antwort – diese Frau bleibt zu Hause. Kapitän Tolly fuhr, und ein Jahr lang gab es von ihm keine Briefe. Nach einem Jahr wurde meine Tochter zur Arbeit nach Stockholm geschickt, an die schwedische Botschaft.«
    »Als Aufklärerin etwa? Eine geheime Arbeit?«
    Rabinowitsch sah mich missbilligend an, er verurteilte meine Geschwätzigkeit.
    »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, zu was für einer Arbeit. Bei der Botschaft. Meine Tochter arbeitete dort eine Woche. Dann kam ein Flugzeug aus Amerika, und sie flog zu ihrem Mann. Jetzt werde ich ihre Briefe nicht mehr aus Moskau erwarten.«
    »Und die hiesige Leitung?«
    »Die Hiesigen haben Angst, in solchen Fragen erlauben sie sich kein eigenes Urteil. Ein Untersuchungsführer kam aus Moskau angereist und hat mich in dieser Sache verhört. Und ist wieder abgefahren.«
    Issaj Rabinowitschs Glück war damit nicht erschöpft. Das größte aller Wunder war das Wunder des pünktlichen Endes seiner Haftzeit, auf den Tag genau, ohne Anrechnung der Arbeitstage.
    Der Organismus des ehemaligen Versicherungsagenten war so kräftig, dass Issaj Rabinowitsch noch als Freier an der Kolyma arbeitete, auf dem Posten eines Finanzinspektors. Aufs »Festland« ließ man Rabinowitsch nicht fahren. Rabinowitsch starb etwa zwei Jahre vor dem 20. Parteitag .
    1965

Das Kreuz
    Der blinde Geistliche ging durch den Hof und tastete mit den Füßen nach dem schmalen Brett, einer Art auf der Erde ausgelegtem Dampfersteg. Er ging langsam, beinahe ohne zu stolpern, ohne danebenzutreten, mit den viereckigen Spitzen der riesigen heruntergetretenen Stiefel seines Sohnes an seinen hölzernen Pfad anstoßend. In beiden Händen trug der Geistliche Eimer mit dampfendem Trank für seine Ziegen, die in dem flachen dunklen Schuppen eingeschlossen waren. Drei Ziegen waren es: Maschka, Ella und Tonja – die Namen waren

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