Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
gut gewählt, mit unterschiedlichen Konsonanten. Gewöhnlich reagierte auf seinen Ruf nur die Ziege, die er gerufen hatte; morgens aber, beim Futterverteilen, meckerten die Ziegen durcheinander, mit gellenden Stimmen, und schoben der Reihe nach die Nasen durch die Ritze in der Schuppentür. Vor einer halben Stunde hatte sie der blinde Geistliche in einen großen Kübel gemolken und die dampfende Milch nach Hause getragen. Beim Melken vertat er sich oft in seiner ewigen Dunkelheit – der feine Milchstrahl ging am Kübel vorbei, unhörbar; die Ziegen sahen sich beunruhigt um nach der eigenen, direkt auf die Erde gemolkenen Milch. Aber vielleicht sahen sie sich auch nicht um.
Er vertat sich oft, nicht nur, weil er blind war. Die Gedanken störten genauso sehr, und wenn er mit der warmen Hand gleichmäßig das kühle Ziegeneuter zusammenpresste, vergaß er oft sich selbst und was er tat und dachte an seine Familie.
Erblindet war der Geistliche bald nach dem Tod des Sohnes, eines Rotarmisten der chemischen Kompanie, der an der Nordfront gefallen war. Das Glaukom, der »grüne Star«, verschlimmerte sich rapide, und der Geistliche verlor das Augenlicht. Der Geistliche hatte noch andere Kinder – zwei weitere Söhne und zwei Töchter, aber dieser, der mittlere, war sein Liebling und sozusagen sein einziger gewesen.
Die Ziegen, ihre Pflege, das Füttern, das Saubermachen und Melken, all das machte der Blinde selbst, und diese verzweifelte und überflüssige Arbeit war ein Akt der Selbstbestätigung im Leben – der Blinde war es gewohnt, Ernährer einer großen Familie zu sein, war es gewohnt, beschäftigt zu sein und seinen Platz im Leben zu haben und von niemandem abhängig zu sein, weder von der Gesellschaft noch von den eigenen Kindern. Er ließ seine Frau alle Ausgaben für die Ziegen genau aufschreiben und die Einnahmen aufschreiben, die der sommerliche Verkauf der Ziegenmilch brachte. Ziegenmilch wurde in der Stadt gern gekauft – sie galt als besonders nützlich bei Tuberkulose. Der medizinische Wert dieser Meinung war nicht groß. Nicht größer als die berühmten Portionen Fleisch von schwarzen Welpen, die Tuberkulosekranken von irgendjemand empfohlen wurde. Der Blinde und seine Frau tranken von der Milch pro Tag ein, zwei Gläser, und den Wert dieser Gläser ließ der Geistliche ebenfalls aufschreiben. Schon im ersten Sommer stellte sich heraus, dass das Futter erheblich teurer war als die herausgeholte Milch, und auch die Steuern auf das »Kleinvieh« waren gar nicht so klein, aber die Frau des Geistlichen verbarg die Wahrheit vor ihrem Mann und sagte ihm, die Ziegen brächten Gewinn. Und der blinde Geistliche dankte Gott, dass er die Kraft fand, seine Frau wenigstens mit irgendetwas zu unterstützen.
Seine Frau, die bis 1928 von allen in der Stadt Mütterchen genannt wurde und dann 1929 nicht mehr – die Kirchen in der Stadt waren fast alle gesprengt, und die »kalte« Kathedrale, in der einst Iwan der Schreckliche gebetet hatte, war zum Museum geworden –, seine Frau war einst so füllig, so dick gewesen, dass sogar ihr eigener Sohn, sechs Jahre alt, herumgequengelt und geheult hatte: »Ich will nicht mit dir gehen, ich schäme mich. Du bist so dick.« Sie war schon längst nicht mehr dick, aber das Füllige, die ungesunde Fülle des Herzkranken war in ihrem riesigen Körper geblieben. Sie konnte kaum durchs Zimmer laufen und bewegte sich mühsam vom Ofen in der Küche zum Fenster im Zimmer. Anfangs bat der Geistliche, ihm etwas vorzulesen, aber seine Frau hatte nie Zeit – immer blieben tausend Dinge im Haushalt zu tun, und sie musste kochen, das Essen für sich und die Ziegen. In die Läden ging die Frau des Geistlichen nicht, ihre kleinen Einkäufe machten die Nachbarskinder, denen sie Ziegenmilch einschenkte oder ein Fruchtbonbon in die Hand drückte.
Auf der Herdstelle des russischen Ofens stand ein Kessel – ein Gusstopf, wie man so ein Gefäß im Norden nennt. Der Gusstopf hatte einen angeschlagenen Rand, und der Rand war im ersten Jahr der Ehe angeschlagen worden. Der kochende Trank für die Ziegen wurde aus dem Gusstopf über den angeschlagenen Rand gegossen und floss auf die Herdstelle und tropfte von der Herdstelle auf den Boden. Neben dem Gusstopf stand ein Tiegel mit Grütze, das Mittagessen des Geistlichen und seiner Frau, – die Menschen brauchten viel weniger als die Tiere.
Aber etwas brauchten auch die Menschen.
Es gab wenig zu tun, aber die Ehefrau bewegte sich zu langsam durchs
Weitere Kostenlose Bücher