Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
dieser blutigen »Lebendköder«, dieser schrecklichen Lockmittel.
Ich hatte einen Schal, aus Baumwolle natürlich, aber gestrickt, einen echten Schal. Der Krankenhausfeldscher hatte ihn mir geschenkt, als ich entlassen wurde. Als unsere Etappe im Bergwerk Dshelgala ausgeladen wurde, erschien vor mir ein graues Gesicht ohne Lächeln, mit tief eingeschnittenen, nördlichen Falten, mit Flecken von alten Erfrierungen.
»Wir tauschen!«
»Nein.«
»Verkauf ihn!«
»Nein.«
Alle Ortsansässigen – und zu unserem Fahrzeug waren etwa zwei Dutzend zusammengelaufen – schauten mich erstaunt an und wunderten sich über meine Leichtfertigkeit, meine Dummheit, meinen Stolz.
»Das ist der Älteste, der Lagerälteste«, soufflierte mir jemand, aber ich schüttelte den Kopf.
Auf dem Gesicht ohne Lächeln hoben sich die Brauen. Der Älteste nickte jemandem zu und zeigte auf mich.
Doch zu rauben, zu stehlen zögerte man in dieser Zone. Etwas anderes war viel einfacher – und ich wusste, was dieses Andere sein würde.
Ich knotete mir den Schal um den Hals und nahm ihn nie wieder ab – nicht im Badehaus, nicht in der Nacht, niemals.
Mir den Schal zu erhalten wäre leicht gewesen, aber die Läuse störten. In dem Schal waren so viele Läuse, dass der Schal sich bewegte, wenn ich, um die Läuse abzuschütteln, den Schal einen Moment lang abnahm und bei der Lampe auf den Tisch legte.
Zwei Wochen etwa kämpfte ich mit den Schatten der Diebe und redete mir ein, dass es Schatten sind und keine Diebe. In zwei Wochen drehte ich mich ein einziges Mal um, als ich den Schal direkt vor mir an die Pritsche gehängt hatte, um mir einen Becher Wasser einzuschütten – und sofort war der Schal verschwunden, von erfahrener Diebeshand eingesackt. Ich war es so müde, um diesen Schal zu kämpfen, dieser heranrückende Diebstahl, von dem ich wusste, den ich fühlte, beinahe sah, forderte eine solche Kräfteanspannung – dass ich sogar froh war, nichts mehr hüten zu müssen. Zum ersten Mal nach der Ankunft in »Dshelgala« schlief ich tief und hatte einen schönen Traum. Vielleicht darum, weil die Tausende Läuse verschwunden waren und der Körper gleich die Erleichterung spürte.
Issaj Rabinowitsch verfolgte teilnahmsvoll meinen heroischen Kampf. Selbstverständlich half er mir nicht, meinen verlausten Schal zu hüten, im Lager ist jeder für sich, und ich erwartete ja auch keine Hilfe.
Aber Issaj Rabinowitsch hatte mehrere Tage in der Wirtschaftsabteilung gearbeitet – er steckte mir einen Essensbon zu, um mich über den Verlust hinwegzutrösten. Und ich dankte Rabinowitsch.
Nach der Arbeit legen sich alle hin und breiten ihre schmutzige Arbeitskleidung unter sich aus.
Issaj Rabinowitsch sagte:
»Ich möchte mich mit Ihnen in einer Frage beraten. Die nichts mit dem Lager zu tun hat.«
»Über General de Gaulle?«
»Nein, und spotten Sie nicht. Ich habe einen wichtigen Brief bekommen. Das heißt für mich ist er sehr wichtig.«
Ich vertrieb den heraufziehenden Schlaf durch die Anspannung des gesamten Körpers, raffte mich zusammen und hörte zu.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass meine Frau und meine Tochter in Moskau sind. Die beiden hat man nicht angerührt. Meine Tochter möchte heiraten. Ich habe einen Brief von ihr bekommen. Und von ihrem Bräutigam – hier«, und Rabinowitsch zog ein Bündel Briefe unter seinem Kissen vor – ein Päckchen schöner Blätter, beschrieben in klarer und schneller Handschrift. Ich sah genauer hin, es waren nicht russische, sondern lateinische Buchstaben.
»Moskau hat erlaubt, diese Briefe an mich weiterzuleiten. Können Sie Englisch?«
»Ich? Englisch? Nein.«
»Das ist englisch. Von ihrem Bräutigam. Er bittet mich um Erlaubnis zur Ehe mit meiner Tochter. Er schreibt: meine Eltern haben ihr Einverständnis schon gegeben, es fehlt nur noch das Einverständnis der Eltern meiner künftigen Frau. Ich bitte Sie, mein lieber Vater … Und hier ist der Brief meiner Tochter. Papa, mein Mann, der Marine-Attaché der Vereinigten Staaten von Amerika und Kapitän ersten Ranges Tolly, bittet Dich um Erlaubnis zu unserer Ehe. Papa, antworte mir schnell.«
»Was für ein Unsinn!«, sagte ich.
»Das ist überhaupt kein Unsinn, sondern ein Brief von Kapitän Tolly an mich. Und ein Brief von meiner Tochter. Und ein Brief von meiner Frau.«
Rabinowitsch ertastete unter seinem Hemd langsam eine Laus, holte sie hervor und zerquetschte sie auf der Pritsche.
»Ihre Tochter bittet um Erlaubnis zur
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