Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Menschlichen. Nach dem, was ich gesehen habe, möchte ich niemandem etwas zu danken haben, nicht einmal der eigenen Frau.«
»Schleierhaft. Ich – schreibe und bitte. Die Päckchen bedeuten eine Stelle in der Wirtschaftsabteilung für einen Monat, meinen besten Anzug habe ich für so eine Stelle hergegeben. Sie glauben wahrscheinlich, dem Chef hat der Alte leid getan …«
»Ich dachte, dass Sie zur Lagerleitung irgendwelche besonderen Beziehungen haben.«
»Dass ich ein Zuträger bin? Wer braucht denn einen siebzigjährigen Zuträger? Nein, ich habe einfach ein Bestechungsgeld gezahlt, ein hohes Bestechungsgeld. Ich lebe. Und habe das Ergebnis dieses Bestechungsgeldes mit niemandem geteilt – nicht einmal mit Ihnen. Ich bekomme Pakete, schreibe und bitte.«
Nach dem Einsperren im Mai kehrten wir gemeinsam in die Baracke zurück und nahmen benachbarte Plätze ein – auf Pritschen vom Typus Bahnwaggon. Nicht, dass wir uns angefreundet hätten – im Lager kann man sich nicht anfreunden –, wir achteten einander nur. Ich hatte große Lagererfahrung, und der alte Rabinowitsch hatte eine junge Neugier auf das Leben. Als er sah, dass mein Zorn nicht zu brechen war, achtete er mich, er achtete mich – mehr nicht. Vielleicht noch die Altmännersehnsucht, nach alter Eisenbahngewohnheit dem Erstbesten von sich zu erzählen. Das Leben, das man auf der Erde hinterlassen wollte.
Die Läuse schreckten uns nicht. Gerade in der Zeit der Bekanntschaft mit Issaj Rabinowitsch wurde mir mein Schal gestohlen – aus Baumwolle, aber trotzdem ein echter gestrickter Schal.
Wir gingen zusammen zum Ausrücken, Ausrücken »bis auf den Letzten«, so die prägnante und drohende Bezeichnung für dieses Ausrücken in den Lagern. Ausrücken »bis auf den Letzten«. Die Aufseher packten die Leute, der Begleitposten schubste sie mit dem Kolben, prügelte, jagte die Menge der Zerlumpten den eisbedeckten Berg hinunter, trieb sie hinunter, und wer es nicht schaffte, wer zu spät kam – das eben bedeutete »Ausrücken bis auf den Letzten« –, den packten die Aufseher an Armen und Beinen, holten Schwung und schleuderten ihn den eisbedeckten Berg hinab. Rabinowitsch und ich versuchten beide, schnell hinunterzuspringen, anzutreten und bis zu dem Absatz zu rutschen, an dem der Begleitposten schon wartete und uns mit Maulschellen zur Arbeit, in Reihen aufstellte. In den meisten Fällen gelang es uns, wohlbehalten hinunterzurutschen, gelang es uns, uns lebendig bis zur Grube zu schleppen – und dann, was Gott gibt.
Den Letzten, der zu spät kam, den sie den Berg hinabgeworfen hatten, banden sie mit den Füßen an einen Pferdeschlitten und schleiften ihn an den Arbeitsplatz in der Grube. Rabinowitsch und ich entkamen glücklich dieser tödlichen Abfahrt.
Den Platz für die Lagerzone hatte man nach folgendem Kalkül gewählt: die Rückkehr von der Arbeit ging den Berg hinauf, und wir mussten über die Stufen klettern, uns an die Reste des kahlen, abgebrochenen Gesträuchs klammern und aufwärts kriechen. Nach einem Arbeitstag in der Goldgrube, so sollte man glauben, findet der Mensch nicht die Kräfte, hinaufzukriechen. Und doch – krochen wir. Und kamen – nach einer halben oder einer ganzen Stunde – am Tor der Wache, in der Zone, den Baracken, unserer Behausung an. Auf dem Torgiebel war die gewöhnliche Aufschrift: »Die Arbeit ist eine Sache der Ehre, eine Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums«. Wir gingen in die Kantine, tranken aus unseren Näpfen, gingen in die Baracke und legten uns schlafen. Am Morgen begann alles von vorne.
Hier hungerten nicht alle – warum das so war, habe ich nie erfahren. Als es wärmer wurde, zum Frühling hin, kamen die weißen Nächte, und in der Lagerkantine begannen die schrecklichen Spiele »mit lebendigem Köder«. Man legte eine Brotration auf den leeren Tisch, dann versteckte man sich in einer Ecke und wartete, bis das hungrige Opfer, irgendein
dochodjaga
, vom Brot angezogen, kommt und die Ration berührt und einsackt. Dann stürzten alle aus ihren Ecken, aus dem Dunklen, aus dem Hinterhalt, und es gab tödliche Prügel für den Dieb, das lebende Skelett – eine neue Zerstreuung, die ich nirgends außer in Dshelgala angetroffen habe. Organisiert wurden diese Zerstreuungen von Doktor Kriwizkij , einem alten Revolutionär, ehemaligen Stellvertretenden Volkskommissar für Verteidigungsindustrie. Gemeinsam mit dem »Iswestija«-Journalisten Saslawskij war Kriwizkij der Hauptbeschaffer
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