Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Zimmer und hielt sich mit den Händen an den Möbeln, und gegen Ende des Tages war sie so müde, dass sie nicht die Kraft zum Lesen fand. Und sie schlief ein, und der Geistliche ärgerte sich. Er schlief sehr wenig, obwohl er sich zu zwingen versuchte – schlafen, schlafen. Irgendwann fragte ihn der zweite Sohn, der auf einen kurzen Heimaturlaub gekommen war, betrübt über den hoffnungslosen Zustand des Vaters und voller Sorge:
»Papa, warum schläfst du Tag und Nacht? Warum schläfst du so viel?«
»Du bist ein Dummkopf«, antwortete der Geistliche, »im Schlaf kann ich ja sehen …«
Und der Sohn konnte diese Worte bis zu seinem eigenen Tod nicht vergessen.
Der Rundfunk steckte damals in den Kinderschuhen – bei seinen Freunden krächzten die Detektorempfänger, und niemand wagte, die Erdung an den Heizkörper oder den Telefonapparat zu hängen. Der Geistliche hatte von den Radioempfängern nur gehört, aber er begriff, dass seine in die Welt ausgeflogenen Kinder nicht in der Lage, nicht fähig waren, auch nur das Geld für Radiokopfhörer zusammenzubringen.
Der Blinde begriff nicht recht, warum sie vor einigen Jahren aus dem Zimmer ausziehen mussten, in dem sie mehr als dreißig Jahre gewohnt hatten. Seine Frau hatte ihm etwas Unverständliches, Aufgeregtes und Ärgerliches zugeflüstert mit ihrem riesigen zahnlosen, nuschelnden Mund. Seine Frau hat ihm niemals die Wahrheit erzählt: wie die Milizionäre die kaputten Stühle, die alte Kommode, die Schachtel mit den Photographien und Daguerreotypien, Gusstöpfe und Tiegel durch die Tür ihres unglücklichen Zimmers hinaustrugen, und einige Bücher – die Reste der einst riesigen Bibliothek – und den Schrankkoffer, in dem das letzte aufbewahrt wurde: ein goldenes Brustkreuz. Der Blinde begriff nichts, er wurde in die neue Wohnung geführt und schwieg und betete bei sich zu Gott. Die meckernden Ziegen wurden in die neue Wohnung geführt, und ein Bekannnter, ein Zimmermann, brachte die Ziegen am neuen Platz unter. Eine Ziege verschwand in dem Durcheinander – das war die vierte Ziege, Ira.
Die neuen Bewohner dieser Wohnung am Flussufer – der junge Staatsanwalt am Stadtgericht mit seiner herausgeputzten Frau – warteten im Gasthof »Zentralnaja« auf die Nachricht, dass die Wohnung frei ist. In das Zimmer des Geistlichen wurden der Schlosser und seine Familie aus der Wohnung gegenüber einquartiert, und die beiden Zimmer des Schlossers gingen an den Staatsanwalt. Der Staatsanwalt am Stadtgericht hatte weder den Geistlichen noch den Schlosser je gesehen, auf deren lebendigem Platz er sich zum Leben niederließ.
Der Geistliche und seine Frau dachten selten an das alte Zimmer – er, weil er blind war, und sie, weil sie zu viel Leid hatte sehen müssen in jener Wohnung, viel mehr als Freude. Der Geistliche erfuhr niemals, dass seine Frau, solange sie konnte, Piroggen buk und auf dem Basar verkaufte und immerzu Briefe an verschiedene Bekannte und Verwandte schrieb und bat, sie und ihren blinden Mann doch irgendwie zu unterstützen. Und es kam vor, dass Geld kam, wenig Geld, aber trotzdem konnte man dafür Heu und Leinkuchen für die Ziegen kaufen, die Steuern und den Hirten bezahlen.
Die Ziegen hätte man längst verkaufen müssen, sie waren nur im Weg, doch die Frau fürchtete schon den bloßen Gedanken daran – denn die Ziegen waren die einzige Beschäftigung ihres blinden Mannes. Und wenn sie daran dachte, was für ein lebendiger, energischer Mensch ihr Mann vor seiner schrecklichen Krankheit war, fand sie nicht die Kraft, vom Verkauf der Ziegen anzufangen. Und alles ging weiter wie bisher.
Sie schrieb auch an die Kinder, die schon lange erwachsen waren und eigene Familien hatten. Und die Kinder antworteten auf ihre Briefe – alle hatten eigene Sorgen, eigene Kinder; übrigens antworteten nicht alle Kinder.
Der älteste Sohn hatte sich längst, schon in den zwanziger Jahren, von seinem Vater losgesagt. Damals war es Mode, sich von den Eltern loszusagen – nicht wenige später bekannte Schriftsteller und Dichter begannen ihre literarische Tätigkeit mit Erklärungen dieser Art. Der älteste Sohn war weder ein Dichter noch ein Halunke, er hatte einfach Angst vor dem Leben und gab eine Erklärung in der Zeitung ab, als man ihn im Dienst mit Reden von der »sozialen Herkunft« zu behelligen begann. Genutzt hat ihm die Erklärung nicht, und sein Kainsmal trug er bis ins Grab.
Die Töchter des Geistlichen waren verheiratet. Die ältere wohnte irgendwo
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