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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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im Süden, über das Geld in ihrem Haushalt verfügte sie nicht, sie hatte Angst vor ihrem Mann, aber schrieb oft klagende Briefe nach Hause, voll von eigenen Kümmernissen, und die alte Mutter antwortete auch ihr, weinte über den Briefen der Tochter und tröstete sie. Die ältere Tochter schickte der Mutter jedes Jahr ein Paket mit ein paar Dutzend Kilogramm Weintrauben. Das Paket aus dem Süden war lange unterwegs. Und die Mutter schrieb der Tochter niemals, dass die Trauben jedes Jahr verdorben ankamen – aus dem ganzen Paket konnte sie nur ein paar Beeren für ihren Mann und sich herausklauben. Und jedes Mal dankte die Mutter, dankte demütig und genierte sich, um Geld zu bitten.
    Die zweite Tochter war Feldscherin, und nach der Heirat wollte sie ihr armseliges Gehalt beiseitelegen und dem blinden Vater schicken. Ihr Mann, ein Gewerkschaftsfunktionär, billigte ihr Vorhaben, und drei Monate lang trug die Schwester ihren Lohn ins Elternhaus. Doch nach der Entbindung hörte sie auf zu arbeiten und war Tag und Nacht mit den kleinen Zwillingen beschäftigt. Bald stellte sich heraus, dass ihr Mann, der Gewerkschaftsfunktionär, ein Quartalssäufer war. Seine Dienstkarriere ging schnell bergab, und nach zwei Jahren war er Versorgungsvertreter, doch auch auf dieser Stelle konnte er sich nicht lange halten. Seine Frau, die ohne alle Mittel zum Leben blieb, begann mit zwei kleinen Kindern wieder zu arbeiten und mühte sich nach Kräften und unterhielt mit dem Gehalt als Krankenschwester die beiden kleinen Kinder und sich selbst. Womit hätte sie ihre alte Mutter und ihren blinden Vater unterstützen können?
    Der jüngere Sohn war unverheiratet. Er hätte eigentlich mit Vater und Mutter leben sollen, aber er hatte beschlossen, sein Glück allein zu versuchen. Vom mittleren Bruder war ein Erbe geblieben – ein Jagdgewehr, eine fast ganz neue »Sauer« ohne Hahn, und der Vater ließ die Mutter das Gewehr für neunzig Rubel verkaufen. Für zwanzig Rubel wurden dem Sohn zwei neue Satin-Russenhemden genäht, und er zog zur Tante nach Moskau und fing als Fabrikarbeiter an. Der jüngste Sohn schickte Geld nach Hause, aber bescheiden, fünf oder zehn Rubel im Monat, und bald wurde er wegen seiner Teilnahme an einer Untergrund-Kundgebung verhaftet und verbannt, und seine Spur verlor sich.
    Der blinde Geistliche und seine Frau standen immer um sechs Uhr morgens auf. Die alte Mutter heizte den Ofen, der Blinde ging die Ziegen melken. Geld hatten sie gar keins, aber es glückte der alten Frau hier und da, ein paar Rubel bei den Nachbarn zu leihen. Doch diese Rubel mussten sie zurückgeben, und zu verkaufen hatten sie nichts mehr, alle bewegliche Sachen, alle Tischdecken, Wäschestücke und Stühle – alles war längst verkauft und eingetauscht gegen Mehl für die Ziegen und Graupen für die Suppe. Beide Trauringe und die silberne Halskette waren schon im vergangenen Jahr im Torgsin verkauft. Die Suppe wurde nur an hohen Feiertagen mit Fleisch gekocht, und Zucker kauften die alten Leute nur zum Feiertag. Es sei denn, jemand kam und steckte ihr etwas Süßes oder ein Brötchen zu, das nahm die alte Mutter und trug es ins Zimmer und schob es in die trockenen, nervösen, in ständiger Bewegung befindlichen Finger ihres blinden Mannes. Und beide lachten sie und küssten einander, und der alte Geistliche küsste die von der schweren Hausarbeit verunstalteten, geschwollenen, gesprungenen, schmutzigen Finger seiner Frau. Und die alte Frau weinte und küsste den Alten auf den Kopf, und sie dankten einander für alles Gute, das sie einander im Leben gegeben haben, und dafür, was sie heute füreinander tun.
    Jeden Abend stellte sich der Geistliche vor die Ikone und betete leidenschaftlich und dankte Gott wieder und wieder für seine Frau. Das machte er jeden Tag. Es kam vor, dass er nicht immer mit dem Gesicht zur Ikone stand, und dann stieg seine Frau vom Bett, fasste ihn mit den Händen um die Schultern und stellte ihn mit dem Gesicht zum Bild Jesu Christi. Und der blinde Geistliche ärgerte sich.
    Die alte Frau gab sich Mühe, nicht an den morgigen Tag zu denken. Und dann kam so ein Morgen, an dem sie nichts hatten, um es den Ziegen zu geben, und der blinde Geistliche wachte auf, zog sich an, ertastete die Stiefel unter dem Bett. Und da fing die alte Frau an zu schreien und zu weinen, als wäre sie schuld daran, dass sie nichts zu essen hatten.
    Der Blinde zog die Stiefel an und setzte sich in seinen weichen geflickten Wachstuchsessel.

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