Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Alle anderen Möbel waren längst verkauft, aber der Blinde wusste das nicht – die Mutter sagte, sie hätte sie den Töchtern geschenkt.
Der blinde Geistliche saß, im Sessel zurückgelehnt, und schwieg. Aber in seinem Gesicht war keine Fassungslosigkeit.
»Gib mir das Kreuz«, sagte er und streckte beide Hände aus und bewegte die Finger.
Seine Frau humpelte bis zur Tür und legte den Haken vor. Zu zweit hoben sie den Tisch an und zogen den Koffer unter dem Tisch hervor. Die Frau des Geistlichen nahm aus dem Holzkästchen mit dem Nähgarn einen kleinen Schlüssel und schloss den Koffer auf. Der Koffer war voller Sachen, aber was für Sachen waren das – die Kinderhemdchen der Söhne und Töchter, Bündel mit den vergilbten Briefen, die sie einander vor vierzig Jahren geschrieben hatten, Hochzeitskerzen mit Drahtverzierung – das Wachs war längst vom Ornament abgefallen, Wollknäuel unterschiedlicher Farbe, Bündel von Stoffresten für Flicken. Und unten auf dem Grund zwei Schächtelchen, in denen man Orden verwahrt oder eine Uhr oder ein Schmuckstück.
Die Frau seufzte schwer und stolz, richtete sich auf und öffnete ein Kästchen, in dem auf einem noch ganz neuen Atlaskissen ein Brustkreuz mit einem kleinen Christus-Figürchen lag. Das Kreuz war rötlich, aus Dukatengold.
Der blinde Geistliche befühlte das Kreuz.
»Bring mir das Beil«, sagte er leise.
»Nicht, nicht«, flüsterte sie, sie umarmte den Blinden und versuchte, ihm das Kreuz zu entwinden. Aber der blinde Geistliche riss seiner Frau das Kreuz aus den knotigen geschwollenen Fingern und verletzte sie empfindlich an der Hand.
»Bring es her …«, sagte er, »bring es her … Ist denn darin Gott?«
»Ich machs nicht – mach es selbst, wenn du willst …«
»Ja, ja, ich machs.«
Und die Frau des Geistlichen, halb verrückt vor Hunger, humpelte in die Küche, wo immer das Beil lag und ein trokkenes Scheit – für einen Span, um den Samowar aufzusetzen.
Sie brachte das Beil ins Zimmer, legte den Haken vor und fing an zu weinen, ohne Tränen, schreiend.
»Schau nicht hin«, sagte der blinde Geistliche und legte das Kreuz auf den Boden. Doch sie konnte nicht anders als hinzuschauen. Das Kreuz lag mit dem Figürchen nach unten. Der blinde Geistliche ertastete das Kreuz und holte mit dem Beil aus. Er tat einen Schlag, und das Kreuz sprang ab und klirrte leise auf dem Boden – der blinde Geistliche hatte danebengeschlagen. Der Geistliche ertastete das Kreuz und legte es wieder auf denselben Platz, wieder hob er das Beil. Diesmal verbog sich das Kreuz, und ein Stück davon ließ sich mit den Fingern abbrechen. Eisen ist härter als Gold – das Kreuz zu zerhacken erwies sich als gar nicht schwer.
Die Frau des Geistlichen weinte und schrie schon nicht mehr, als ob das in Stücke gehackte Kreuz schon nichts Heiliges mehr wäre und sich einfach in Edelmetall verwandelt hätte, wie ein Goldklumpen. Eilig und trotzdem sehr langsam wickelte sie die Kreuzstückchen in Stoffreste und legte sie zurück in die Ordensschachtel.
Sie setzte die Brille auf und besah aufmerksam die Beilklinge, ob nicht irgendwo noch ein Goldkörnchen hing.
Als alles verwahrt und der Koffer an seinen Platz gerückt war, zog der Geistliche seinen Zelttuchmantel und die Mütze an, nahm den Melkkübel und ging durch den Hof an dem langen angestückten Brett entlang – die Ziegen melken. Mit dem Melken war er spät dran, es war schon heller Tag und die Läden längst geöffnet. Die Torgsin-Läden, wo Lebensmittel gegen Gold verkauft wurden, öffneten morgens um zehn.
1959
Der Lehrgang
VOR ALLEM ANDEREN:
Der Mensch denkt nicht gern an das Schlechte zurück. Diese Eigenschaft der menschlichen Natur erleichtert das Leben. Nehmen Sie sich selbst. Ihr Gedächtnis ist bemüht, das Gute und Helle festzuhalten und das Schwierige und Dunkle zu vergessen. Unter schwierigen Lebensbedingungen entsteht keine Freundschaft. Das Gedächtnis »gibt« keineswegs gleichgültig alles Vergangene der Reihe nach »heraus«. Nein, es wählt aus, womit es sich froher und leichter leben lässt. Das ist quasi eine Schutzreaktion des Organismus. Diese Eigenschaft der menschlichen Natur ist im Grunde eine Verzerrung der Wahrheit. Aber was ist die Wahrheit?
Von den vielen Jahren meines Lebens an der Kolyma waren die beste Zeit die Monate der Ausbildung im Feldscherlehrgang am Lagerkrankenhaus bei Magadan. Das meinen alle Häftlinge, die auch nur ein, zwei Monate auf Kilometer dreiundzwanzig der
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