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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Magadaner Trasse waren.
    Die Lehrgangsteilnehmer kamen von allen Enden der Kolyma zusammen – von Norden und von Süden, von Westen und von Südwesten. Der südlichste Süden war um vieles nördlicher als jene Siedlung an der Küste, in die sie jetzt angereist waren.
    Die Lehrgangsteilnehmer aus den fernen Verwaltungen versuchten, eine der unteren Pritschen zu belegen – nicht, weil der Frühling gekommen war, sondern wegen des Bettnässens, an dem fast alle »Bergwerks«-Häftlinge litten. Die dunklen Flecken alter Erfrierungen auf den Wangen sahen aus wie ein staatliches Brandmal, ein Stempel, mit dem die Kolyma sie gezeichnet hatte. Auf den Gesichtern der Provinzler lag ein und dasselbe verdrießliche Lächeln des Misstrauens, einer verborgenen Erbitterung. Alle Leute vom »Bergwerk« hinkten ein wenig, sie waren dem Kältepol nahe gewesen, hatten den Hungerpol erreicht. Die Abkommandierung zum Feldscherlehrgang war ein ungutes Abenteuer. Jeder kam sich vor wie eine Maus – eine halbtote Maus, die die Katze, das Schicksal, aus den Klauen gelassen hat, um noch ein bisschen mit ihr zu spielen. Aber gut, auch die Mäuse haben nichts gegen so ein Spiel – das sollte die Katze wissen.
    Die Provinzler rauchten gierig die Machorka-Papirossy der »Modegecken« zu Ende, aber loszustürzen und eine Kippe aufzuheben vor aller Augen trauten sie sich doch nicht, auch wenn in den Goldgruben und Zinnbergwerken die offene Jagd auf die »Stummel« ein für jeden wahren Lagerinsassen angemessenes Verhalten war. Erst wenn er sah, dass niemand in der Nähe war, schnappte sich der Provinzler schnell die Kippe, steckte sie in die Tasche und zerbröselte sie in der Hand, um sich später in der freien Zeit eine »selbständige« Zigarette zu drehen. Viele »Modegecken«, die erst kürzlich über das Meer gekommen waren – vom Dampfer, aus der Etappe, hatten noch ein freies Hemd, eine freie Krawatte oder Schirmmütze.
    Shenka Kaz zog alle Augenblick lang ein winziges Soldatenspiegelchen aus der Tasche und kämmte seine dicken Locken vorsichtig mit einem zerbrochenen Kamm. Den kahlgeschorenen Provinzlern kam Kaz’ Verhalten affig vor, aber sie wiesen ihn nicht zurecht, »lehrten ihn nicht leben« – das verbietet das ungeschriebene Lagergesetz.
    Die Lehrgangsteilnehmer wurden in einer blitzsauberen Baracke Typus Bahnwaggon untergebracht, mit zweistöckigen Pritschen und Einzelplatz für jeden. Es heißt, dass solche Pritschen hygienischer sind und dem Auge der Leitung schmeicheln – selbstverständlich: jedem sein eigener Platz. Aber die verlausten Veteranen, die von weit her angereist waren, wussten, dass sie zu wenig Fleisch auf den Knochen hatten, um sich aus eigenen Kräften zu wärmen, und der Kampf gegen die Läuse ist auf den Waggon- wie den durchgehenden Pritschen gleich schwer. Traurig dachten die Provinzler an die durchgehenden Pritschen der fernen Tajgabaracken, an den Gestank und die stickige Gemütlichkeit der Durchgangslager.
    Ihr Essen bekamen die Lehrgangsteilnehmer in der Kantine, in der die Versorgung des Krankenhauses aß. Die Mittagssuppe war viel dicker als in der Grube. Die »Bergwerksleute« fragten nach einem Nachschlag – und bekamen ihn. Sie kamen ein zweites Mal, und wieder füllte der Koch ruhig den durch die Luke gestreckten Napf. In den Gruben hatte es das niemals gegeben. Die Gedanken bewegten sich langsam durch das leere Hirn, und die Entscheidung reifte immer klarer, immer kategorischer heran – um jeden Preis auf diesem Lehrgang zu bleiben, »Student« zu werden, dafür zu sorgen, dass auch der morgige Tag dem heutigen gleichen wird. Der morgige Tag – ist der morgige Tag im buchstäblichen Sinn. Niemand dachte an die Arbeit als Feldscher, an die medizinische Qualifikation. An so Fernes vorauszudenken fürchtete man sich. Nein, nur der morgige Tag mit derselben Kohlsuppe zum Mittagessen, mit gekochter Flunder, mit Weizengrütze zum Abendessen, mit dem nachlassenden Schmerz von den Knochenmarkentzündungen, die man in zerrissenen Fußlappen versteckte und in die selbstgemachten Watte
burki
schob.
    Die Lehrgangsteilnehmer ängstigten sich vor den Gerüchten, eins beunruhigender als das andere, vor den »Latrinenparolen« des Lagers. Mal hieß es, Häftlinge über dreißig oder vierzig würden nicht zu den Prüfungen zugelassen. In den Baracken der künftigen Lehrgangsteilnehmer gab es Leute von neunzehn wie auch von fünfzig Jahren. Mal hieß es, der Lehrgang werde gar nicht eröffnet – man habe

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