Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
es sich überlegt, keine Mittel vorhanden, und morgen schickt man die Lehrgangsteilnehmer zu den allgemeinen Arbeiten, und das Allerschrecklichste – man schickt sie
zurück
an den alten Aufenthaltsort, in die Goldgruben und Zinnbergwerke.
Und wirklich, am folgenden Tag wurden die Lehrgangsteilnehmer um sechs Uhr morgens geweckt, man ließ sie an der Wache antreten und brachte sie zehn Kilometer weiter – eine Straße ebnen. Die Arbeit beim Straßenbau, im Wald, von der jeder Grubenhäftling träumte, erschien hier allen als außerordentlich schwer, kränkend und ungerecht. Die Lehrgangsteilnehmer »schafften« so viel, dass man sie am nächsten Tag nicht mehr losschickte.
Es ging das Gerücht, dass der Chef den gemeinsamen Unterricht für Männer und Frauen verboten habe. Dass man Artikel 58, Punkt 10 (antisowjetische Agitation), der bislang durchaus als »Sozial«-Artikel galt, nicht zur Prüfung zulassen werde. Zur Prüfung! Das war das entscheidende Wort. Denn es sollte eine Aufnahmeprüfung geben. Die letzte Aufnahmeprüfung meines Lebens war die Aufnahmeprüfung zur Universität gewesen. Das war sehr, sehr lange her. Ich konnte mich an nichts erinnern. Die Hirnzellen waren viele Jahre nicht trainiert, die Hirnzellen hatten gehungert und für immer die Fähigkeit verloren, Wissen aufzunehmen und wiederzugeben. Eine Prüfung! Ich schlief einen unruhigen Schlaf. Ich konnte keine Lösung finden. Eine Prüfung »nach dem Programm von sieben Klassen«. Das war unglaublich. Das passte weder zur Arbeit in Freiheit noch zum Leben in Haft. Eine Prüfung!
Zum Glück war die erste Prüfung in Russischer Sprache. Das Diktat – eine Seite Turgenew – las der örtliche Kenner der russischen Literatur, der Feldscher und Häftling Borskij. Mein Diktat bewertete Borskij mit der besten Note, und ich wurde von der mündlichen Prüfung in Russisch befreit. Vor genau zwanzig Jahren hatte ich in der Aula der Moskauer Universität eine schriftliche Arbeit geschrieben, die Aufnahmeprüfung, und wurde von den mündlichen Prüfungen befreit. Die Geschichte wiederholt sich – einmal als Tragödie, ein anderes Mal als Farce . Eine Farce konnte man meinen Fall nicht nennen.
Langsam, mit dem Gefühl eines physischen Schmerzes, ging ich die Zellen meines Gedächtnisses durch – etwas Wichtiges, Interessantes sollte sich mir eröffnen. Zusammen mit der Freude des ersten Erfolges kam die Freude des Erinnerns – schon lange hatte ich mein Leben vergessen, hatte ich die Universität vergessen.
Die nächste Prüfung war Mathematik, eine schriftliche Arbeit. Zu meiner eigenen Überraschung löste ich die zur Prüfung vorgelegte Aufgabe schnell. Die nervliche Konzentration zeigte Wirkung, die letzten Kräfte wurden mobilisiert und gaben auf wunderbare, unerklärliche Weise die verlangte Lösung heraus. Eine Stunde vor der Prüfung oder eine Stunde nach der Prüfung hätte ich eine solche Aufgabe nicht gelöst.
In den verschiedensten Lehranstalten gibt es das obligatorische Prüfungsfach »Die Verfassung der UdSSR« . Mit Rücksicht auf das »Kontingent« jedoch verzichteten die Chefs der Kultur- und Erziehungsabteilung der Lagerleitung ganz auf dieses heikle Fach, zur allgemeinen Zufriedenheit.
Das dritte Fach war Chemie. Der Prüfer war der frühere Kandidat der chemischen Wissenschaften und frühere wissenschaftliche Mitarbeiter der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften A.I. Bojtschenko – heute Leiter des Krankenhauslabors, ein selbstbewusster Witzbold und Pedant. Aber das Problem waren nicht Bojtschenkos Eigenschaften als Mensch. Das Fach Chemie überforderte mich auf ganz spezielle Weise. Chemie wird in der Oberschule gelehrt. Meine Oberschule fällt in die Jahre des Bürgerkriegs. Und meinen Chemielehrer Sokolow, einen ehemaligen Offizier, hatte man während der Liquidierung der Verschwörung von Noulens in Wologda erschossen, so blieb ich für alle Zeiten ohne Chemie. Ich wusste nicht, woraus die Luft besteht, und die Formel für Wasser kannte ich nur aus einem alten Studentenlied:
Meine Stiefel sind soso
Lassen durch das H 2 O.
Die nachfolgenden Jahre hatten gezeigt, dass man auch ohne Chemie leben kann, und ich hatte die ganze Geschichte vergessen, als sich plötzlich in meinem vierzigsten Lebensjahr herausstellte, dass ich Chemiekenntnisse brauchte – und zwar nach dem Lehrplan der Oberschule.
Wie soll ich, der im Fragebogen geschrieben hat: abgeschlossene höhere Schuldbildung, nichtabgeschlossene Hochschulbildung,
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