Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Bojtschenko erklären, dass ich nur Chemie niemals gelernt habe?
Ich suchte nirgends Hilfe, weder bei meinen Kameraden, noch bei der Leitung – mein Gefängnis- und Lagerleben hatte mir beigebracht, mich nur auf mich selbst zu verlassen. Die »Chemie« begann. Ich erinnere mich an dieses ganze Examen bis auf den heutigen Tag.
»Was sind Oxyde und Säuren?«
Ich setzte zu irgendwelchen verworrenen und falschen Erläuterungen an. Ich hätte ihm von der Flucht Lomonossows nach Moskau erzählen können, von der Erschießung des Steuereintreibers Lavoisier , aber die Oxyde …
»Sagen Sie mir die Formel von Kalk …«
»Ich weiß sie nicht.«
»Und die Formel von Soda?«
»Ich weiß nicht.«
»Wozu sind Sie dann zum Examen gekommen? Ich schreibe doch Fragen und Antworten ins Protokoll.«
Ich schwieg. Aber Bojtschenko war nicht mehr jung, er verstand manche Dinge. Unzufrieden sah er die Liste meiner bisherigen Noten an: zwei Fünfen . Er zuckte die Schultern.
»Schreiben Sie das Zeichen für Sauerstoff.«
Ich schrieb ein großes »H«.
»Was wissen Sie über Mendelejews Periodensystem der Elemente?«
Ich sagte es ihm. In meinen Ausführungen war wenig »Chemie« und viel Mendelejew. Über Mendelejew wusste ich ein paar Dinge. Natürlich, er war ja der Vater der Frau Aleksandr Bloks!
»Sie können gehen«, sagte Bojtschenko.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass ich in Chemie eine Drei bekommen hatte und aufgenommen, aufgenommen, aufgenommen war in den Feldscherlehrgang beim Zentralkrankenhaus der Verwaltung der nordöstlichen Lager des NKWD.
Zwei Tage lang tat ich gar nichts: ich lag auf der Pritsche, atmete den Barackengestank und schaute an die angeräucherte Decke. Eine wichtige, außerordentlich wichtige Periode in meinem Leben begann. Ich empfand das mit meinem ganzen Wesen. Ich betrat einen Weg, der mir das Leben retten konnte. Ich musste mich vorbereiten, nicht auf den Tod, sondern auf das Leben. Und ich wusste nicht, was schwieriger war.
Man gab uns Papier, riesige, an den Rändern angesengte Blätter, die Spuren des Brandes nach einer Explosion im letzten Jahr, der die ganze Stadt Nachodka vernichtet hatte. Aus diesem Papier machten wir uns Hefte. Man gab uns Bleistifte und Federn aus.
Sechzehn Männer und acht Frauen! Die Frauen saßen im linken Teil der Klasse, näher beim Licht, die Männer rechts, wo es dunkler war. Ein Korridor von einem Meter Breite teilte die Klasse. Wir saßen an ganz neuen schmalen Tischen mit Unterfach. Auch in der Oberschule hatte ich an genau solchen Tischen gelernt.
Später kam ich einmal in die Fischersiedlung Olu – neben der Ewenken-Schule in Olu stand eine Schulbank, und ich sah mir die rätselhafte Konstruktion lange an, bis ich endlich begriff, was das war – eine Erisman-Bank .
Lehrbücher hatten wir keine, und an Anschauungsmaterial – ein paar Plakate zur Anatomie.
Lernen war eine Heldentat und Lehren Heroismus.
Zuerst zu den Helden. Keiner von uns – weder Frauen noch Männer – wollte Feldscher werden, um im Lager sorglos zu leben, schnell zum »Knochenklempner« zu werden.
Für einige, und auch für mich, war der Lehrgang Lebensrettung. Und obwohl ich fast vierzig war, bot ich alles auf und lernte an der Grenze meiner physischen wie seelischen Kräfte. Außerdem hatte ich vor, ein paar Leuten zu helfen und mit anderen zehn Jahre alte Rechnungen zu begleichen. Ich hoffte, wieder ein Mensch zu werden.
Anderen gab der Lehrgang den Beruf fürs Leben, er erweiterte ihren Horizont, war von nicht geringer allgemeinbildender Bedeutung und verhieß eine stabile gesellschaftliche Position im Lager.
Am ersten Tisch auf dem ersten Platz vom Gang saß Min Garipowitsch Schabajew – der tatarische Schriftsteller Min Schabaj, verurteilt nach Artikel »
asa
«, ein Opfer des Jahres siebenunddreißig.
Russisch sprach Schabajew gut, er schrieb die Lektionen auf russisch mit, obwohl er, wie ich viele Jahre später herausfand, seine Prosa auf tatarisch schrieb. Im Lager verbergen viele ihre Vergangenheit. Das ist erklärlich und logisch nicht nur bei ehemaligen Untersuchungsführern und Staatsanwälten. Ein Schriftsteller zieht als Intellektueller, als geistig arbeitender Mensch, als »Brillenschlange«, in Haftanstalten immer den Hass der Kameraden wie der Leitung auf sich. Schabajew hatte das längst begriffen und gab sich als Handelskaufmann aus, und in Gespräche über Literatur mischte er sich nicht ein – so war es seiner Meinung nach am besten, am
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