Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
mit dunkelvioletten Mangankristallen. Der Kranke, der genau wusste, wie man Verbrennungen behandelt, schob die Hand nicht weg, protestierte nicht, zuckte mit keiner Wimper. Das war ein Kolyma-Veteran. Shenka Kaz’ Fahrlässigkeit befreite ihn fast für einen Monat von der Arbeit. An der Kolyma hat man selten Glück. Man muss es ergreifen und festhalten, solange man die Kräfte hat.
Malinskij war der jüngste von allen in der Klasse. Er war neunzehn. Im letzten Kriegsjahr einberufen, in Kriegszeiten aufgewachsen, moralisch nicht gefestigt, war Kostja Malinskij wegen Marodierens verurteilt. Der Zufall hatte ihn ins Krankenhaus geführt, wo sein Onkel als Arzt arbeitete – ein Moskauer Internist. Der Onkel half ihm bei der Aufnahme in den Lehrgang. Der Lehrgang interessierte Kostja wenig. Sein verdorbenes Wesen oder auch einfach seine Jugend trieben ihn ständig in verschiedene Lagerabenteuer: Bezug von Butter mit gefälschten Talons, Verkauf von Schuhen, eine Reise nach Magadan. Ständig hatte er Auseinandersetzungen über solche (und nur solche?) Dinge mit den Bevollmächtigten. Irgendjemand muss eben Informant gewesen sein.
Der Lehrgang gab Kostja einen Beruf. Ein paar Jahre später traf ich ihn in der Siedlung Ola. Dort hatte sich Kostja als Feldscher ausgegeben, der im Krieg einen zweijährigen Lehrgang absolviert hatte, und ich konnte unfreiwillig der Grund für die Aufdeckung der Lüge sein.
1957 traf ich Kostja in Moskau im Bus – Samthut, weicher Mantel.
»Was machst du?«
»In die Medizin, in die Medizin bin ich gegangen«, rief mir Kostja zum Abschied zu.
Die übrigen Lehrgangsteilnehmer waren Leute aus den Bergwerksverwaltungen, Leute mit einem anderen Schicksal.
Orlow war »
litjorka
«, verurteilt nach einem Buchstaben-Paragraphen , das heißt von einer »Trojka« oder einem Sonderkollegium.
Der Moskauer Ingenieur Orlow war in den Bergwerken dreimal auf Grund gelaufen. Als Schlacke hatte ihn die Kolyma-Maschine ins örtliche Krankenhaus ausgeworfen, und von dort kam er auf den Lehrgang. Sein Einsatz war das ganze Leben. Für Orlow gab es nur den Unterricht, so unendlich schwer ihm die Medizin auch in den Kopf ging. Mit der Zeit arbeitete er sich ein und begann an seine Zukunft zu glauben.
Der Oberschullehrer und Geograph Suchowentschenko war älter als Orlow, er war über vierzig. Von seiner Strafe hatte er etwa acht von zehn Jahren hinter sich – es blieb nicht mehr viel. Und Suchowentschenko gehörte zu denen, die davongekommen waren, festen Fuß gefasst hatten – er besaß schon eine ruhige Arbeit und konnte überleben. Er hatte die Erfahrung als
dochodjaga
hinter sich und war am Leben geblieben. Er arbeitete als Geologe, als Probensammler, als Gehilfe des Truppchefs. Allerdings hätte sich all dieser Segen plötzlich verflüchtigen können, es musste nur der Chef wechseln – Suchowentschenko hatte ja kein Diplom. Und die Erinnerung an die Jahre im Bergwerk war noch zu frisch. Die Möglichkeit, den Lehrgang mitzumachen, war da. Der Lehrgang sollte acht Monate dauern – bis zum Ende der Haftzeit bliebe nur ganz wenig. Er hätte einen guten Lagerberuf erworben. Suchowentschenko gab den Geologentrupp auf und machte die Ausbildung zum Feldscher. Aber ein Mediziner wurde nicht aus ihm – ob das eine Frage des Alters war oder der entsprechenden seelischen Eigenschaften. Nach Abschluss des Lehrgangs spürte Suchowentschenko, dass er nicht behandeln kann, nicht die Willenskraft hat, zu entscheiden. Er hatte lebendige Menschen vor sich und nicht Steine für die Sammlung. Nach kurzer Arbeit als Feldscher kehrte Suchowentschenko zum Geologen-Beruf zurück. Also gehörte er zu denen, die umsonst ausgebildet wurden. Sein Anstand und seine Güte standen außer jedem Zweifel. Die »Politik« fürchtete er wie das Feuer, aber denunzieren gegangen wäre er nicht.
Silajkin hatte weniger als sieben Klassen, er war schon ein alter Mann, und das Lernen fiel ihm sehr schwer. Während Kundusch, Orlow und ich uns von Tag zu Tag sicherer fühlten, wurde es für Silajkin immer schwerer. Aber er lernte weiter und verließ sich auf sein Gedächtnis, sein Gedächtnis war hervorragend, auf seine Fähigkeit, zu lavieren, und nicht nur zu lavieren, sondern die Menschen auch zu verstehen. Nach Silajkins Beobachtungen gab es überhaupt keine Verbrecher, außer den Ganoven. Alle übrigen Häftlinge verhielten sich in Freiheit so wie alle anderen – sie stahlen dem Staat genauso viel, machten genauso viele Fehler,
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