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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Semenjak saß gewöhnlich dabei und trank Tee.
    »Und was lesen Sie?«
    »Nichts, außer den Lektionen.«
    »Lesen Sie das«, sie hielt mir ein kleines Buch hin, einem Gebetbuch ähnlich. Das war ein Bändchen Blok, aus der Kleinen Serie der »Dichterbibliothek«.
    Nach drei Tagen brachte ich ihr die Gedichte zurück.
    »Haben sie Ihnen gefallen?«
    »Ja.« Es war mir peinlich zu sagen, dass ich diese Gedichte gut kenne, gut kannte.
    »Lesen Sie mir ›Es sang ein Mädchen im Kirchenchor‹.«
    Ich las.
    »Jetzt – ›Von der fernen Meri, der lichten Meri‹ … Gut. Jetzt das hier …«
    Ich las »Im blauen fernen Schlafzimmerchen«.
    »Verstehen Sie, dass der Junge gestorben ist …«
    »Ja, natürlich.«
    »Der Junge ist gestorben«, wiederholte Olga Stepanowna mit trockenen Lippen und zog die weiße steile Stirn in Falten. Sie schwieg. »Soll ich Ihnen noch etwas geben?«
    »Ja, bitte.«
    Olga Stepanowna öffnete die Schublade ihres Schreibtischs und zog ein Buch hervor, das dem Bändchen Blok ähnelte. Das war das Evangelium.
    »Lesen Sie, lesen Sie. Besonders das hier – Apostel Paulus, ›Die Korintherbriefe‹.«
    Ein paar Tage später gab ich ihr das Buch zurück. In jener Areligiosität, in der ich mein ganzes bewusstes Leben verbracht hatte, war ich nicht zum Christen geworden. Aber ehrenwertere Menschen als die Religiösen habe ich in den Lagern nicht gesehen. Die Zerstörung griff alle Seelen an, und nur die Religiösen hielten stand. Das war vor fünfzehn Jahren so und auch vor fünf Jahren.
    In Semenjaks »Kabäuschen« lernte ich den Bau-Vorarbeiter Wasja Schwezow kennen, einen Häftling. Wasja Schwezow, ein schöner Mann von fünfundzwanzig Jahren, hatte bei sämtlichen Damen des Lagers großen Erfolg. In der Abteilung besuchte Schwezow die Essensausgeberin Nina. Als verständiger, begabter Junge sah er vieles klar und sprach es klar aus, aber ich erinnere mich aus einem besonderen Anlass an ihn. Ich tadelte Wasja wegen Nina – sie war schwanger.
    »Sie kommt ja von alleine«, sagte Schwezow. »Was soll ich da machen? Ich bin im Lager aufgewachsen. Ich bin seit meiner Kinderzeit im Gefängnis. Wie viele Frauen habe ich gehabt – glaub mir, ich kann sie nicht zählen. Aber weißt du was? Mit keiner habe ich auch nur eine Stunde im Bett geschlafen. Immer irgendwie – auf dem Flur, im Schuppen, beinahe im Gehen. Glaubst du mir das?« Das erzählte Wasja Schwezow, der schönste Mann im Krankenhaus.
    Nikolaj Sergejewitsch Minin, gynäkologischer Chirurg, leitete die Frauenabteilung. Lektionen hielt er nicht bei uns, wir machten ein Praktikum, ein Praktikum ohne alle Theorie.
    Bei großen Schneestürmen schneite die Krankenhaussiedlung bis zu den Dächern ein, und man konnte sich nur am Rauch aus den Schornsteinen orientieren. In jeder Abteilung wurden Stufen nach unten ausgehauen – zur Eingangstür. Wir stiegen von unserem Wohnheim hinauf, liefen in die Frauenabteilung und standen um halb neun in Minins Kabinett, zogen die Kittel an und schlüpften durch die angelehnte Tür ins Zimmer. Die übliche Kurzversammlung war im Gang, die Übergabe durch die Schwester des Nachtdienstes. Minin, ein riesiger graubärtiger alter Mann, saß an einem kleinen Tisch und verzog das Gesicht. Der Rapport des Nachtdienstes war zu Ende, und Minin machte eine Handbewegung. Alle begannen zu lärmen … Minin drehte den Kopf nach rechts. Auf einem kleinen Glastablett brachte die Oberschwester ein Gläschen mit einer bläulichen Flüssigkeit. Der Geruch war bekannt. Minin nahm das Gläschen, trank es aus und strich sich über den grauen Schnurrbart.
    »Der Likör ›Blaue Nacht‹«, sagte er und blinzelte den Lehrgangsteilnehmern zu.
    Ich war einige Male bei seinen Operationen dabei. Er operierte immer »mit Schwips«, aber versicherte, seine Hände würden nicht zittern. Die Operationsschwestern bestätigten das. Aber nach der Operation, wenn er sich wusch, die Hände in einer großen Schüssel abspülte, bebten seine dicken kräftigen Finger, und er sah traurig auf seine ungehorsamen, zitternden Hände.
    »Vorbei mit der Arbeit, Nikolaj Sergejewitsch, vorbei«, sagte er leise zu sich selbst. Aber er operierte noch mehrere Jahre.
    Vor der Kolyma hatte er in Leningrad gearbeitet. Verhaftet wurde er im Jahr siebenunddreißig, zwei Jahre etwa schob er an der Kolyma die Schubkarre. Er war Koautor eines großen Lehrbuchs für Gynäkologie. Der Name des zweiten Autors war Serebrjakow. Nach Minins Verhaftung erschien das

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