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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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überzeugen, und wegen der übergroßen Schamhaftigkeit des Brüsseler Professors beendeten die Lehrgangsteilnehmer ihre Ausbildung ohne Kenntnisse in diesem Bereich. Welche Gründe hatte Umanskij? Er fand das ethische wie das kulturelle und das Bildungsniveau der Lehrgangsteilnehmer zu gering, als dass derartige Themen kein ungesundes Interesse wecken würden. Dieses ungesunde Interesse wurde auch in den Gymnasien geweckt, zum Beispiel durch den Atlas der Anatomie, und Umanskij erinnerte sich daran. Er hatte unrecht – die Provinzler zum Beispiel hätten sich dieser Frage selbstverständlich mit allem Ernst gewidmet.
    Menschlich war er anständig, und in den Lehrgangsteilnehmern sah er früher als viele Dozenten die Menschen. Doktor Umanskij war überzeugter Weismannianer. Als er uns die Teilung der Chromosomen darstellte, erwähnte er beiläufig, dass es heute eine andere Theorie der Chromosomenteilung gebe, aber er kenne diese neue Theorie einfach nicht und könne uns nur ihm gut Bekanntes weitergeben. So wurden wir zu Weismannianern ausgebildet. Den vollkommenen Triumph der Weismannianer nach der Erfindung des Elektronenmikroskops erlebte Doktor Umanskij nicht mehr. Dieser Triumph hätte dem alten Doktor Freude gemacht.
    Die Namen der Knochen, die Namen der Muskeln paukten wir uns ein, selbstverständlich die russischen, nicht die lateinischen Namen. Wir paukten begeistert, mit Hingabe. Im Einpauken steckt immer ein demokratisches Prinzip – vor der Wissenschaft, der Anatomie, waren wir alle gleich. Niemand bemühte sich, etwas zu verstehen. Wir bemühten uns nur, zu behalten. Am leichtesten fiel es Basarowa und Petraschkewitsch – den Schülern von gestern (wenn man die Haftzeit ausnahm, die bei Petraschkewitsch bald acht Jahre betrug).
    Beim sorgsamen Einpauken der Lektion dachte ich an das Wohnheim der Ersten Moskauer Universität im Jahr 1926, die Tscherkaska, wo nachts die vom Unterricht trunkenen Mediziner durch die dunklen Korridore liefen, lernten und lernten und sich mit den Fingern die Ohren zuhielten. Das Wohnheim brummte, lachte und lebte. Die lebensfrohen Studenten der Gesellschafts-, der Literaturwissenschaft und der Geschichte lachten über die armen Einpauker von der Medizin. Wir verachteten eine Wissenschaft, die man nicht verstehen, sondern sich einpauken musste.
    Zwanzig Jahre später lernte ich Anatomie. In diesen zwanzig Jahren hatte ich genau verstanden, was ein Beruf, was die exakten Wissenschaften sind, was die Medizin, was das Ingenieurwesen ist. Und – der Himmel gab mir die Gelegenheit, mich selbst damit zu beschäftigen.
    Mein Hirn war noch imstande, Wissen aufzunehmen und wiederzugeben.
    Doktor Blagorasumow las die »Grundlagen des Gesundheitswesens und der Hygiene«. Der Gegenstand war langweilig, und den Unterricht durch geistreiche Bemerkungen zu beleben, wagte Blagorasumow nicht, und vielleicht konnte er es auch nicht aus Rücksichten der politischen Vernunft – er hatte das Jahr achtunddreißig in Erinnerung, als alle Spezialisten, alle Ärzte, Ingenieure und Buchhalter mit Schubkarre und Hacke arbeiten mussten, gemäß den »Spezialanweisungen« aus Moskau. Blagorasumow war zwei Jahre an der Schubkarre, er lief von Hunger, Kälte, Skorbut und Schlägen dreimal auf Grund. Im dritten Jahr erlaubte man ihm, mit dem Arzt, einem
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, in der Sanitätsstelle als Feldscher zu praktizieren. Viele Ärzte sind gestorben in jenem Jahr. Blagorasumow war am Leben geblieben und hatte sich fest eingeprägt: keinerlei Gespräche, mit niemandem. Freundschaft nur im Rahmen von »ein Gläschen, ein Häppchen«. Im Krankenhaus war er beliebt. Die Trinkgelage des Arztes wurden von den Feldschern vertuscht, und als sie sich nicht mehr vertuschen ließen – wurde Blagorasumow in den Karzer geschleppt, in den kandej . Aus dem Karzer befreit, las er weiter seine Lektionen. Das fand niemand sonderbar.
    Er lehrte mit Eifer und ließ uns das Wichtige nach Diktat niederschreiben, er kontrollierte systematisch unsere Mitschriften und ihre Aneignung – kurz, Blagorasumow war ein gewissenhafter und vernünftiger Dozent.
    –
    Pharmakologie las der Krankenhaus-Feldscher Gogoberidse, ehemaliger Direktor des Transkaukasischen Pharmakologischen Instituts. Sein Russisch war gut, sein georgischer Akzent nicht stärker als der von Stalin. Früher war Gogoberidse ein führender Genosse gewesen – seine Unterschrift steht unter Sapronows »Plattform der fünfzehn« . Die Zeit von 1928 bis 1937 verbrachte er

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