Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Mejerson, der damals zum Chefarzt des Krankenhauses ernannt wurde, »woher sollen wir denn das wissen, was Sader liest?«
»Ach, wenn ihr nur das nicht wisst, macht es nichts«, antwortete Mejerson in seiner üblichen Manier.
Sader war erst gerade an die Kolyma gekommen, unmittelbar nach dem Krieg. 1956 wurde er rehabilitiert, allerdings erst am Ende des Jahres, und er beschloss, nicht nach Ungarn zurückzukehren, sondern ließ sich mit dem Haufen Geld, den er bei seiner Entlassung aus dem Dalstroj bekam, irgendwo im Süden nieder. Mit Doktor Sader passierte, bald nachdem er allen Lehrgangsteilnehmern die Prüfung abgenommen hatte, eine Geschichte.
Doktor Janos Sader, Otolaryngologe, war ungarischer Kriegsgefangener und also Szálasi-Anhänger . Sein »Termin« waren fünfzehn Jahre. Er lernte schnell Russisch, er war Arzt, und die Zeiten, als man Mediziner zu den allgemeinen Arbeiten schickte, waren vorbei (diese Verordnung hatte auch nur das Kürzel »T« betroffen, das heißt die Trotzkisten), außerdem war sein Fach das gesuchteste – Hals, Nase, Ohren. Er operierte und behandelte erfolgreich. Er arbeitete in der Chirurgie, als Assistenzarzt – das war ein zusätzliches Deputat neben seiner Hauptarbeit. Bei Eingriffen in der Bauchhöhle assistierte er gewöhnlich dem Leiter der Chirurgischen Abteilung, dem Chirurgen Mejerson. Kurz, Doktor Sader hatte Glück, selbst unter den Freien besaß er eine gewisse Klientel, er trug freie Kleidung, hatte langes Haar und aß sich satt, und er hätte sich auch betrinken können, aber er nahm nicht einen Tropfen Alkohol in den Mund. Seine Bekanntheit wuchs und wuchs, bis eine Geschichte passierte, die unserem Krankenhaus für lange Zeit den Otolaryngologen nahm.
Alles hängt damit zusammen, dass eine Erythrozyte, das heißt ein rotes Blutkörperchen, einundzwanzig Tage lebt. Das lebendige menschliche Blut befindet sich in ständiger Erneuerung. Aber einmal dem menschlichen Organismus entnommen, kann es nicht länger als einundzwanzig Tage leben. Die Chirurgische Abteilung hatte, wie es sich gehört, eine eigene Bluttransfusionsstation, wo die Blutspender – Freie wie Häftlinge – Blut spendeten; die Freien bekamen einen Rubel pro Kubikzentimeter, die Häftlinge ein Zehntel davon. Für einen Hypotoniker war das eine ordentliche Einnahme, sie nahmen 300-400 Gramm im Monat – spende Blut, das brauchst du als Therapie, und dann bekommst du noch eine zusätzliche Ration und Geld. Blutspender unter den Häftlingen waren die Leute aus der Versorgung (Sanitäter etc.), die man auch darum beim Krankenhaus hielt, weil sie den Kranken Blut spendeten. Blutübertragungen wurden hier mehr gebraucht als irgendwo auf der Welt, aber natürlich wurden Blutübertragungen nicht nach allgemeinen medizinischen Indikationen gemacht, beispielsweise bei Auszehrung, sondern nur dann, wenn das nötig war nach einer Operation oder zu ihrer Vorbereitung oder bei besonders schweren Fällen in den internistischen Abteilungen.
Auf der Transfusionsstation gab es immer einen Vorrat von zuvor abgenommenem Blut. Und das Bestehen dieses Vorrats war der Stolz unseres Krankenhauses. In allen anderen Krankenhäusern wurde das Blut, wenn überhaupt, dann unmittelbar von Mensch zu Mensch übertragen. Spender und Empfänger lagen während dieser Manipulation nebeneinander auf zwei Tischen.
Blut, dessen Haltbarkeitsfrist überschritten war, wurde weggeworfen.
Nicht weit vom Krankenhaus gab es eine Schweinesowchose, in der von Zeit zu Zeit beim Schweineschlachten das Blut gesammelt und ins Krankenhaus gefahren wurde. Hier wurde dem Blut zur Vorbeugung gegen Gerinnung Zitronensäurelösung beigemischt und diese Flüssigkeit den Kranken zu trinken gegeben, eine Art selbsthergestelltes Hämatogen, sehr nahrhaft und von den Kranken, deren Ernährung aus allen möglichen dünnen Suppen und Perlgraupengrütze bestand, sehr geschätzt. Die Verabreichung von Hämatogen an die Kranken war nichts Neues. Eines Tages war der Chef der Chirurgischen Abteilung, der Arzt Mejerson, auf Dienstreise, und die Leitung der Abteilung ging auf Doktor Sader über.
Während der Visite in der Abteilung fühlte er sich bemüßigt, auch die Blutübertragungsstation zu besuchen, wo er feststellte, dass bei einem beträchtlichen Teil des Vorrats die Haltbarkeitsfrist endete, und er nahm die Mitteilung der Krankenschwester entgegen, dass sie dieses Blut wegzuschütten gedenke. »Muss man denn dieses Blut wegwerfen?«, fragte er. Die
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