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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sie ein »Verhältnis« an, ohne das Ende des Lehrgangs abzuwarten. Viele machten ihr den Hof, aber ohne Erfolg. Sie tat sich mit dem Schmied zusammen, und zu ihren Treffen lief sie in die Schmiede. Nach ihrer Freilassung arbeitete sie einige Jahre als Feldscherin in einem separaten Lagerabschnitt.
    Wir wollten lernen, und unsere Lehrer wollten unterrichten. Sie sehnten sich nach dem lebendigen Wort, nach der Weitergabe von Wissen, die ihnen verboten war, der Weitergabe von Wissen, die vor ihrer Verhaftung den Sinn ihres Lebens ausgemacht hatte. Als Professoren und Dozenten, Kandidaten der medizinischen Wissenschaften und Referenten auf Fortbildungskursen für Ärzte konnten sie ihrer Energie zum ersten Mal seit vielen Jahren freien Lauf lassen. Sämtliche Lehrer des Lehrgangs, bis auf einen, hatten Artikel 58.
    Die Leitung hatte plötzlich begriffen, dass das Wissen um die Geheimnisse des Pfortaderkreislaufs nicht unbedingt mit antisowjetischer Propaganda zu tun hat, und der Lehrgang wurde mit hochqualifizierten Lehrenden ausgestattet. Allerdings mussten die Hörer
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sein. Aber wo findet man so viele
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mit sieben Jahren Schulbildung? Die
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saßen ihre Strafe ohnehin auf privilegierten Posten ab und brauchten keinen Lehrgang. Artikel 58 zum Lehrgang zuzulassen, davon wollte die Leitung gar nichts hören. Schließlich fand man einen Kompromiss – »
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« und Artikel 58 Punkt 10, als beinahe
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, wurden zum Lehrgang zugelassen.
    Man erstellte einen Stundenplan und hängte ihn an die Wand. Einen Stundenplan! Alles wie im wirklichen Leben. Das Vehikel, einem schwer beladenen, irgendwie zusammengeflickten alten Tajga-Laster ähnlich, machte sich schüchtern auf den Weg durch die Schlaglöcher und Sümpfe der Kolyma.
    Die erste Lektion war Anatomie. Dieses Fach unterrichtete der Krankenhauspathologe Dawid Umanskij, ein siebzigjähriger alter Mann.
    Als Emigrant der Zarenzeit, hatte Umanskij sein Diplom als Doktor der Medizin in Brüssel gemacht. Gelebt und gearbeitet hatte er in Odessa, wo er erfolgreich als Arzt praktizierte – nach ein paar Jahren war Umanskij Eigentümer zahlreicher Häuser. Die Revolution machte klar, dass Häuser nicht die sicherste Art der Geldanlage sind. Umanskij kehrte zur ärztlichen Tätigkeit zurück. Gegen Mitte der dreißiger Jahre spürte er, woher der Wind wehte, er beschloss, sich so weit davonzumachen wie möglich und ließ sich bei Dalstroj einstellen. Das rettete ihn nicht. Er »geriet in die Mühlen« des Dalstroj, 1938 wurde er verhaftet und zu 15 Jahren verurteilt. Seitdem arbeitete er als Chef des Leichenhauses beim Krankenhaus. An guter Arbeit hinderte ihn seine Verachtung für die Menschen und sein Groll über sein Leben. Er besaß die Klugheit, sich mit den behandelnden Ärzten nicht zu streiten – bei den Obduktionen hätte er ihnen eine Menge Ärger machen können, vielleicht war es auch nicht Klugheit, sondern Verachtung, und er gab bei Streitigkeiten in der »Sektion« aus schlichter Verachtung nach.
    Doktor Umanskij hatte einen klaren Verstand. Er war ein recht guter Linguist, das war sein Hobby, sein Steckenpferd. Er konnte viele Fremdsprachen, im Lager lernte er orientalische Sprachen und versuchte, die Gesetze der Herausbildung von Sprachen abzuleiten, darauf verwandte er all seine Freizeit im Leichenhaus, wo er zusammen mit seinem Assistenten, dem Feldscher Dunajew, wohnte.
    Nebenbei, mühelos und gewissermaßen zum Spaß las Umanskij für die künftigen Feldscher auch einen Kurs in Latein. Was für ein Latein das war, kann ich nicht sagen, aber der Genitiv in den Rezepten fiel mir plötzlich leicht.
    Doktor Umanskij war ein lebendiger Mensch, der zu jedem politischen Ereignis Stellung nahm und in jeder Frage des internationalen oder nationalen Lebens eine fundierte Meinung hatte. »Das Wichtigste, liebe Freunde«, sagte er in seinen privaten Gesprächen, »ist zu überleben und Stalin zu überleben. Der Tod Stalins, er wird uns die Freiheit bringen.« Leider starb Umanskij 1953 in Magadan und erlebte nicht mehr, worauf er so viele Jahre gewartet hatte.
    Umanskijs Unterricht war nicht schlecht, aber er unterrichtete irgendwie widerwillig. Er war der gleichgültigste von allen Dozenten. Von Zeit zu Zeit wurde abgefragt, wiederholt, von der allgemeinen Anatomie kamen wir zur speziellen. Einen einzigen Bereich seiner Wissenschaft weigerte sich Umanskij kategorisch zu unterrichten: die Anatomie der Geschlechtsorgane. Er ließ sich von nichts

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