Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Lehrbuch nur unter dem Namen Serebrjakows. Für die Plakkerei des Prozessierens fehlten Minin nach seiner Freilassung die Kräfte. Freigelassen wurde er, wie alle, ohne das Recht auf Verlassen der Kolyma. Er trank noch mehr, und 1952 erhängte er sich in seinem Zimmer in der Siedlung Debin.
Während der Revolution hatte der alte Bolschewik Nikolaj Sergejewitsch Minin im Namen der Sowjetregierung mit der American Relief Administration verhandelt und hatte sich mit Nansen getroffen. Später hielt er Radiovorträge zu antireligiösen Fragen.
Alle mochten ihn sehr – irgendwie wirkte es so, als wollte Minin allen Gutes, obwohl er niemandem etwas tat, weder Gutes noch Schlechtes.
Doktor Sergej Iwanowitsch Kulikow las »Tuberkulose«. In den dreißiger Jahren wurde den Bewohnern des Großen Landes eifrig eingeredet, das Klima an der Kolyma und das Klima im Fernen Osten sei ein und dasselbe. Die Kolyma-Berge förderten gewissermaßen die Heilung der Tuberkulose und stabilisierten auf jeden Fall den Zustand der Lungenkranken. Die Verfechter dieser Behauptung vergaßen, dass die Bergkuppen der Kolyma von Schlamm bedeckt sind, dass die Flüsse der Goldregionen sich ihren Weg durch den Sumpf gebahnt haben und dass die Waldtundra der Kolyma für Lungenkranke der schädlichste Ort ist. Sie vergaßen, dass die Ewenken, Jakuten und Jukagiren der Kolyma fast bis auf den Letzten an Tuberkulose litten. In den Häftlingskrankenhäusern waren Tuberkuloseabteilungen nicht vorgesehen. Doch der Kochbazillus – es gab den Kochbazillus, und man musste sehr umfangreiche Tuberkuloseabteilungen einrichten.
Weißhaarig und gebrechlich wirkend, merklich schwerhörig, war Sergej Iwanowitsch seelisch und körperlich rüstig. Seinen Gegenstand hielt er für zentral, und er ärgerte sich, wenn man ihm widersprach. Er sagte nichts, aber wenn er wichtige Neuigkeiten hörte, die die Zeitungen brachten, lächelte er und funkelte mit den Augen.
Doktor Kulikow hatte zehn Jahre nach irgendeinem Punkt von Artikel 58 abgebüßt. Als er freigelassen wurde, erhielt er Ortsbindung auf Lebenszeit. Seine Familie zog zu ihm an die Kolyma: seine alte Frau und die Tochter, ebenfalls Tuberkuloseärztin.
Der Chemiker Bojtschenko leitete das Praktikum der Lehrgangsteilnehmer im Labor. Mich hatte er sich gut gemerkt, er behandelte mich mit aller Verachtung für einen Menschen, der von Chemie keine Ahnung hatte.
Den Lehrgang über Nervenkrankheiten las Anna Israilewna Ponisowskaja. Damals war sie Freie und hatte sogar schon ihre Dissertation verteidigt. Während der Haft hatte sie einige Jahre mit dem großen Neuropathologen Professor Skoblo zusammengearbeitet, der ihr auch bei der Formulierung ihres Themas viel geholfen hatte – so hieß es im Krankenhaus. Ihre Begegnung mit Professor Skoblo lag schon nach meiner Bekanntschaft mit ihm, 1939 hatten wir im Durchgangslager Magadan gemeinsam die Böden gewischt. Die Welt ist klein, Anna Israilewna war eine außerordentlich selbstbewusste Dame. Sie hatte sich liebenswürdigerweise bereiterklärt, einige Lektionen auf dem Feldscherlehrgang zu halten. Die Darbietung ihrer Lektion selbst gestaltete sie so feierlich, dass ich mich von allen Lektionen Anna Israilewnas nur an ihr schwarzes raschelndes Seidenkleid und den scharfen Geruch ihres Parfums erinnere – keine einzige unserer Lehrgangsteilnehmerinnen hatte Parfum. Zwar hatte der Koch Nadja Jegorowa ein winziges Fläschchen »Flieder«-Eau de Cologne geschenkt, aber Nadja roch während der Lektionen so vorsichtig und knauserig daran, dass zwei Reihen weiter hinten keinerlei Duft ankam. Vielleicht störte auch mein ewiger Schnupfen, den ich mir an der Kolyma geholt hatte.
Ich erinnere mich, dass irgendwelche Plakate in die Klasse getragen wurden – Darstellungen zum bedingten Reflex , aber ob das einen Nutzen brachte, weiß ich nicht.
Psychische Erkrankungen, so war es beschlossen, wurden uns gar nicht gelehrt und damit das ohnehin gestutzte Programm gekürzt. Aber die Dozenten waren da – der Vorsitzende der Aufnahmekommission für den Lehrgang, Doktor Sidkin, war der Krankenhauspsychiater.
Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten las uns Doktor Sader, ein hundertprozentiger Ungar. Er war ein bildschöner Mann mit Hammelaugen, aber Doktor Sader sprach sehr schlecht Russisch und konnte den Lehrgangsteilnehmern fast nichts vermitteln. Übernommen hatte er die Lektion für die Praxis im Russischen. Der Unterricht bei ihm war reine Zeitverschwendung.
Wir bedrängten
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