Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
die Karten der Kranken.
Ich freute mich, dass ich diese Messungen allein machte. Viele Jahre später begriff ich, dass das Absicht war – ich konnte mich in Ruhe einarbeiten; im ersten Fall war ein anderes Vorgehen nötig gewesen, bei dem es auf eine schnelle Entscheidung und eine zupackende Hand ankam.
Jeden Tag eröffnete sich Neues und zugleich unverkennbar Bekanntes – aus dem Unterrichtsmaterial.
Simulanten und Aggravanten wurden von Fjodor Jefimowitsch nicht entlarvt.
»Es kommt ihnen nur so vor«, sagte Loskutow traurig, »als wären sie Aggravanten und Simulanten. Sie sind viel ernster krank, als sie selbst denken. Simulation und Aggravation bei alimentärer Distrophie und geistigem Verfall im Lager sind noch nicht erforscht, nicht erforscht …«
Aleksandr Aleksandrowitsch Malinskij, der den Lehrgang Innere Krankheiten las, war ein reinlicher, wohlgenährter Sanguiniker, ein ordentlich rasierter, grauhaariger Spaßvogel mit beginnendem Bauch. Seine Lippen waren dunkelrosa, herzförmig. Und aristokratische Muttermale auf langen Stielen bebten auf seinem dunkelroten Rücken – so stellte er sich den Lehrgangsteilnehmern manchmal im Krankenhausbad, im Dampfbad dar. Er schlief – als einziger Arzt an der Kolyma, und ich glaube, sogar als einziger von allen Kolymabewohnern – in einem maßgeschneiderten langen Männernachthemd bis an die Knöchel. Das stellte sich während eines Brandes in seiner Abteilung heraus. Der Brand wurde schnell gelöscht und war bald vergessen, aber über Doktor Malinskijs Nachthemd sprach das Krankenhaus viele Monate lang.
Als ehemaliger Referent auf Moskauer Fortbildungslehrgängen für Ärzte passte er sich dem Niveau der Lehrgangsteilnehmer nur mühsam an.
Eine Kühle der Entfremdung stand ständig zwischen dem Dozenten und den Hörern. Aleksandr Aleksandrowitsch hätte diesen Vorhang gern zerrissen, aber er wusste nicht wie. Er dachte sich ein paar platte Witze aus – aber das machte den Gegenstand seines Unterrichts nicht zugänglicher.
Anschaulichkeit? Selbst in den Anatomiestunden behalfen wir uns ja ohne Skelett. Umanskij zeichnete uns die Knochen mit Kreide an die Tafel.
In seinen Lektionen bemühte sich Malinskij von ganzem Herzen, uns so viele Kenntnisse wie möglich zu vermitteln. Als guter Kenner des Lagers – er war 1937 verhaftet worden – gab Malinskij in seinen Lektionen viele wichtige Ratschläge zur medizinischen Ethik in ihrer Anwendung auf das Lager. »Lernen Sie, dem Kranken zu glauben«, rief uns Aleksandr Aleksandrowitsch leidenschaftlich auf, vor der Tafel hüpfend und mit der Kreide klopfend. Es ging um Hexenschüsse und Lumbago, aber wir verstanden, dass dieser Appell sich auf wichtigere Dinge bezog – es ging um das Verhalten der
wahren
Medizin im Lager, darum, dass das Abnorme des Lagerlebens den Mediziner nicht von seinem wahren Weg abbringen darf.
Wir verdanken Doktor Malinskij vieles, Kenntnisse, Wissen, und auch wenn sein ständiges Bestreben – nach unserer Meinung und sozusagen zu unserem Unglück –, deutlichen Abstand zu uns zu halten, bei uns keine Sympathie weckte, wussten wir, was wir an ihm hatten.
Das Klima der Kolyma vertrug Aleksandr Aleksandrowitsch gut. Nach seiner Rehabilitierung blieb er für sein weiteres Leben auf eigenen Wunsch in Sejmtschan, in einem der Gemüsebetriebe der Kolyma.
Aleksandr Aleksandrowitsch las regelmäßig Zeitungen, aber tauschte sich mit niemandem aus – er hatte Erfahrung, Erfahrung … An Büchern las er nur Medizinisches.
Lehrgangsleiterin war die freie, auf Vertragsbasis beschäftigte Ärztin Tatjana Michajlowna Iljina, die Schwester von Sergej Iljin, dem bekannten Fußballer, wie sie selbst sich empfahl. Tatjana Michajlowna war eine Dame, die bis in Kleinigkeiten hinein gegenüber der obersten Leitung den richtigen Ton zu treffen bemüht war. Sie machte an der Kolyma große Karriere. Ihre geistige Speichelleckerei war beinahe grenzenlos. Einmal bat sie mich, ihr etwas »Gutes« zu lesen zu bringen. Ich brachte ihr eine Kostbarkeit: den einbändigen Hemingway mit der »Fünften Kolonne« und »48 Erzählungen«. Iljina drehte das kirschrote Bändchen in der Hand und blätterte darin.
»Nein, nehmen Sie es zurück: Das ist Luxus, und wir brauchen Schwarzbrot.«
Das waren sichtlich fremde, scheinheilige Worte, und sie sprach sie mit Vergnügen aus, aber nicht ganz angebracht. Nach diesem Affront dachte ich nicht weiter über die Rolle eines Lektüreberaters für Doktor Iljina
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