Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Sterilität auf fast großstädtisches Niveau und forderte die skrupulöse Erfüllung der Anforderungen an eine chirurgische Klinik. In den anderen Abteilungen dagegen zeigte er betonte Geringschätzung. Wenn er zu Konsultationen kam, zog er niemals Halbpelz und Mütze aus und setzte sich im Halbpelz zum Kranken aufs Bett – in jeder internistischen Abteilung. Das tat er mit Absicht, und es sah aus wie eine Beleidigung. Die Krankenzimmer waren trotzdem sauber, und die nassen Spuren von Mejersons Filzstiefeln wurden, wenn der Konsultant ging, von den murrenden Sanitätern lange weggewischt. Das war eine der Vergnügungen des Chirurgen – Mejerson war redegewandt, und er war immer bereit, seine Galle, seinen Zorn, seine Unzufriedenheit mit der Welt über die Internisten auszuschütten.
In seinen Lektionen ging es ihm nicht um Vergnügen. Er setzte alles klar, genau und erschöpfend auseinander, es gelang ihm, allen verständliche Beispiele und lebendige Illustrationen zu finden, und wenn er sah, dass das Lernen gut ging, freute er sich. Er war leitender Chirurg am Krankenhaus und später Chefarzt, und auf unserem Lehrgang war seine Meinung in allen Fragen der inneren Organisation des Lehrgangs von entscheidender Bedeutung. Alles, was er vor den Augen der Teilnehmer tat, alles, was er sagte, war durchdacht und zweckmäßig.
Am ersten Tag unseres Besuchs einer echten Operation, als wir uns in sterilen Kitteln, die wir zum ersten Mal übergezogen hatten, und in phantastischen Gazehalbmasken in der Ecke des Operationssaals drängten, operierte Mejerson. Es assistierte seine ständige Operationsschwester – Nina Dmitrijewna Chartschenko, eine Vertragsarbeiterin, Sekretärin der Komsomolorganisation des Krankenhauses. Mejerson kommandierte abgehackt:
»Kocherklemme!.. Nadel!«
Und Chartschenko reichte ihm die Instrumente vom Tablett und legte sie vorsichtig in die ausgestreckte, mit einem hellgelben Gummihandschuh überzogene Hand des Chirurgen.
Aber da hatte sie ihm das falsche zugereicht, und Mejerson fluchte grob, holte mit der Hand aus und warf die Pinzette auf den Boden. Die Pinzette klirrte, Nina Dmitrijewna wurde rot und reichte schüchtern das richtige Instrument.
Wir waren gekränkt für Chartschenko und böse auf Mejerson. Wir fanden, dass er das nicht hätte tun dürfen. Und sei es um unseretwillen, wenn er schon so ein Grobian war.
Nach der Operation drückten wir Nina Dmitrijewna unser Mitgefühl aus.
»Freunde, der Chirurg ist verantwortlich für die Operation«, sagte sie ernst und freundschaftlich. In ihrer Stimme war keine Empörung und Kränkung.
Als hätte er alles verstanden, was in den Neulingen vorging, widmete Mejerson seine nächste Stunde einem besonderen Thema. Das war eine glänzende Lektion über die Verantwortung des Chirurgen, über den Willen des Chirurgen, über die Notwendigkeit, den Willen des Kranken zu brechen, und über die Psychologie des Arztes und die Psychologie des Kranken.
Diese Lektion weckte einhellige Begeisterung, und von dieser Lektion an stand für uns – die Gruppe der Lehrgangsteilnehmer – Mejerson über allen.
Ebenso glänzend, geradezu poetisch, war seine Lektion »Die Hände des Chirurgen«, in der es unter großem Überschwang um das Wesen des medizinischen Berufs und um den Begriff der Sterilität ging. Mejerson hielt sie für sich selbst, fast ohne seine Hörer anzuschauen. Es kamen viele Geschichten darin vor. Auch die Panik, die die Spassokukozkij-Klinik ergriff bei einer geheimnisvollen Infektion von Kranken bei sterilen Operationen – die enträtselte Warze am Finger des Assistenten. Das war eine Lektion über den Aufbau der Haut, über chirurgische Untadeligkeit. Und warum weder ein Chirurg noch eine Operationsschwester oder ein Feldscher der chirurgischen Abteilung das Recht haben, sich an den Lager»subbotniks« zu beteiligen, ein Recht auf physische Arbeit haben. Und dahinter sahen wir den jahrelangen leidenschaftlichen Kampf des Chirurgen Mejerson gegen die unwissende Lagerleitung.
Manchmal schaffte Mejerson an dem Tag, an dem das Gelernte überprüft wurde, das Abfragen schneller als gedacht. Den Rest der Zeit widmete er höchst interessanten Geschichten »apropos«: über bedeutende russische Chirurgen, über Oppel, Fjodorow und besonders Spassokukozkij, den Mejerson vergötterte. Alles war scharfsinnig, klug und nützlich, alles war ganz und gar »echt«. Unser Blick auf die Welt änderte sich, dank Mejersons wurden wir zu Medizinern. Wir
Weitere Kostenlose Bücher