Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
lernten medizinisches Denken, und wir lernten erfolgreich. Jeder von uns war ein anderer geworden nach diesen acht Monaten Lehrgang mit dem Programm der zweijährigen Schulen.
Von Magadan zog Mejerson später nach Neksikan, in die Westliche Verwaltung. 1952 wurde er plötzlich verhaftet und nach Moskau gebracht – man versuchte, ihn mit der Ärzte-Affäre zu »verbinden«, und zusammen mit den Ärzten wurde er 1953 freigelassen. Zurück an der Kolyma, arbeitete Mejerson dort nur kurz, er hatte Angst, länger in einer so instabilen und gefährlichen Gegend zu bleiben. Er reiste aufs Festland aus.
Beim Krankenhaus gab es einen Klub, aber die Lehrgangsteilnehmer gingen dort nicht hin – mit Ausnahme der jungen Frauen, Shenka Kaz’ und Borissows.
Uns schien es frevelhaft, auch nur eine Stunde der freien Zeit auf anderes zu verwenden als aufs Lernen. Wir lernten Tag und Nacht. Anfangs versuchte ich, meine Aufzeichnungen in ein reines Heft ins Reine zu schreiben – doch dafür reichte weder die Zeit noch das Papier.
Das Lagerkrankenhaus war schon überfüllt mit Menschen aus dem Krieg – russischen Emigranten aus der Mandschurei, gefangenen Japanern, die statt Brot Reis bekamen, vielen Hunderten Menschen, die von Kriegstribunalen als Spione verurteilt waren –, aber all das hatte noch nicht jenes Ausmaß erreicht, das die Repressionen wenig später erreichten, zum Ende der Schifffahrtsperiode 1946, als man fünftausend Gefangene, die auf dem Dampfer »KIM« gebracht wurden, im Dezember während der sich hinziehenden Überfahrt mit Wasser aus den Feuerspritzen übergoss. Beim Transport und den Amputationen dieser Erfrorenen arbeiteten wir schon als vollausgebildete Feldscher und nicht in Magadan.
Jeden Tag quälten uns Zweifel – wird man den Lehrgang nicht schließen? Gerüchte, eines schrecklicher als das andere, ließen mich nicht schlafen. Aber der Unterricht lief und lief, und schließlich kam der Tag, wo die extremen Nörgler und Kleingläubigen erleichtert aufatmen mussten.
Mehr als drei Monate waren vergangen, und der Lehrgang ging weiter. Neue Zweifel kamen auf – werden wir das Abschlussexamen bestehen? Denn der Lehrgang war vollkommen offiziell eingerichtet und gab das Recht zu praktizieren. Allerdings erklärte 1953 die Sanitätsabteilung des Dalstroj der Abteilung Gesundheitswesen der Stadt Kalinin , dass Absolventen dieses Lehrgangs nur an der Kolyma praktizieren dürften, aber dermaßen sonderbare Grenzen für medizinische Kenntnisse wurden auf der unteren Ebene nicht berücksichtigt.
Großen Kummer machte uns, dass das Programm gekürzt wurde und nur die Rechte einer Krankenschwester oder eines Pflegers gab. Aber das war zweitrangig. Schlimmer war, dass keinerlei Dokumente ausgestellt wurden. »Die Bescheinigungen werden in Ihre Akte gelegt«, erklärte Iljina. Es stellte sich heraus, dass es in unseren Akten nicht den geringsten Hinweis auf unsere medizinische Ausbildung gab. Nach der Freilassung mussten manche von uns Bescheinigungen sammeln, die die Lehrgangsdozenten beglaubigten.
Nach drei Monaten Unterricht lief die Zeit plötzlich sehr, sehr schnell. Der näher kommende Examenstag freute uns nicht – das Examen zog einen Schlussstrich unter unser wunderbares Leben bei Kilometer dreiundzwanzig. Wir, die wir die Kolyma gesehen hatten, wir, Veteranen des Jahres siebenunddreißig, wussten, dass es ein besseres Leben nicht geben würde. Und darum waren wir alarmiert und betrübt, im Übrigen in Maßen, denn die Kolyma hatte uns gelehrt, nicht weiter als einen Tag voraus zu denken.
Der Examenstag kam näher. Es wurde schon offen davon gesprochen, dass dieses Krankenhaus um 500 Kilometer weiter in die Tajga verlegt wird – ans linke Ufer der Kolyma, in die Siedlung Debin.
Einen Monat vor Ende des Lehrgangs fand ein Probeexamen in allen Fächern statt. Ich maß diesem Anlass keine Bedeutung bei und begriff erst nach dem Abschlussexamen, dass sämtliche Prüfungsthemen, die die Teilnehmer im echten Examen bekamen, in sämtlichen Fächern – eine Wiederholung der Fragen des Vorexamens waren. Natürlich konnten die Mitglieder der Kommission, die obersten Chefs aus der Sanitärabteilung des Dalstroj, auch zusätzliche Fragen stellen und taten das auch. Aber die Grundlage der Zuversicht für den Prüfling, die Grundlage des Eindrucks für den Prüfer war schon im gelungenen bekannten Prüfungsthema gelegt. Ich erinnere mich an mein Prüfungsthema in Chirurgie – »variköse
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