Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Entlassung aus dem Krankenhaus. Immer versorgte er jemanden mit Essbarem, brachte jemandem etwas mit – dem einen eine Prise Machorka, dem anderen ein Stück Brot.
In seine Abteilung zu kommen (er arbeitete als Internist) galt bei den Kranken als Glück.
Unaufhörlich setzte er sich ein, sprach vor, schrieb.
Und das nicht einen Monat oder ein Jahr, sondern über all die zwanzig Jahre Tag für Tag, wofür ihm die Leitung nur weitere Haftstrafen gab.
Die Geschichte kennt eine solche Figur. Das ist der Gefängnisarzt Fjodor Petrowitsch Haas, über den A.F. Koni ein Buch geschrieben hat. Aber Haas’ Zeit war eine andere Zeit. Das waren die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – in der russischen Gesellschaft eine Zeit des moralischen Aufschwungs. Für die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts kann man von einem solchen Aufschwung nicht sprechen. In der Atmosphäre von Denunziationen, Verleumdungen, Bestrafungen und Rechtlosigkeit, als man mit provokativ fabrizierten Verfahren eine Gefängnishaft nach der anderen bekam, war es wesentlich schwerer, Gutes zu tun, als zu Zeiten des Doktor Haas.
Dem einen verschaffte Loskutow die Ausreise aufs »Festland« als Invalide, für den anderen fand er eine leichte Arbeit – ohne dem Kranken Fragen zu stellen, verfügte er klug und umsichtig über sein Schicksal.
Fjodor Jefimowitsch Loskutow hatte eine geringe Bildung – im schulischen Sinn dieses Wortes –, er kam mit Elementarschulbildung an die Medizinische Hochschule. Aber er las viel, war ein guter Beobachter des Lebens, dachte viel nach und hatte ein freies Urteil über die unterschiedlichsten Gegenstände – er war ein breit gebildeter Mann.
Als in höchstem Grad bescheidener Mensch, bedächtig in seinen Äußerungen, war er eine bemerkenswerte Figur. Er hatte einen Fehler – seine Hilfe war nach meiner Ansicht allzu wahllos, und darum versuchten die Ganoven, die diesen berüchtigten Schwachpunkt an ihm spürten, ihn »einzuspannen«. Aber später kam er auch damit zurecht.
Drei Verurteilungen zu Lagerhaft, das beklemmende Leben an der Kolyma mit den Drohungen der Leitung, den Erniedrigungen, der Ungewißheit des morgigen Tages haben Loskutow weder zum Skeptiker noch zum Zyniker gemacht.
Und als er in die wirkliche Freiheit kam, die Rehabilitierung hatte und einen Haufen Geld dazu, verteilte er es genauso an Bedürftige, half genauso und besaß auch dann keine zweite Wäschegarnitur, als er mehrere Tausend Rubel im Monat verdiente.
Das war unser Dozent für Augenkrankheiten. Nach dem Abschluss des Lehrgangs arbeitete ich einige Wochen – meine ersten Wochen als Feldscher – eben bei Loskutow. Mein erster Abend endete im Behandlungsraum. Man brachte einen Kranken mit Rachenabszess.
»Was ist das?«, fragte mich Loskutow.
»Ein Rachenabszess.«
»Und die Behandlung?«
»Den Eiter entfernen und darauf achten, dass sich der Kranke an der Flüssigkeit nicht verschluckt.«
»Kochen Sie die Instrumente ab.«
Ich legte die Instrumente in den Sterilisator, ließ sie aufkochen und rief Loskutow:
»Fertig.«
»Bringen Sie den Kranken.«
Der Kranke setzte sich auf einen Hocker, mit geöffnetem Mund. Eine kleine Lampe erleuchtete seinen Rachen.
»Waschen Sie sich die Hände, Fjodor Jefimowitsch.«
»Nein, waschen Sie sich die Hände«, sagte Loskutow. »Diese Operation werden Sie ausführen.«
Kalter Schweiß lief mir den Rücken hinab. Aber ich wusste, wusste genau, dass man, ehe man etwas mit eigenen Händen gemacht hat, nicht behaupten kann, dass man es kann. Leichtes erweist sich plötzlich als nicht zu schaffen, Schwieriges – als unglaublich leicht.
Ich wusch mir die Hände und trat entschlossen an den Kranken heran. Die weit geöffneten Augen des Kranken sahen mich vorwurfsvoll und erschrocken an.
Ich zielte und durchstieß den reifen Abszess mit dem stumpfen Ende eines Messers.
»Den Kopf! Den Kopf!«, rief Fjodor Jefimowitsch.
Ich konnte den Kopf des Kranken gerade noch nach vorn beugen, und er hustete den Eiter direkt auf meine Kittelschöße aus.
»Na, und das wars schon. Und Sie ziehen einen neuen Kittel an.«
Am folgenden Tag schickte mich Loskutow ins »halbstationäre« Krankenhaus, wo die Invaliden lagen, mit dem Auftrag, allen den Arteriendruck zu messen. Mit dem Riva-Rocci-Apparat ausgerüstet, maß ich bei allen sechzig und notierte die Werte. Das waren Hochdruckpatienten. Ich maß dort eine ganze Woche Blutdruck, zehn Mal bei jedem, und erst dann zeigte mir Loskutow
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