Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
nach.
Tatjana Michajlowna war verheiratet. An die Kolyma kam sie mit zwei Kindern – als Ehefrau. Ihr Mann, ein Kampfoffizier, unterschrieb nach dem Krieg einen Vertrag mit Dalstroj und kam mit seiner Familie in den Nordosten; dort behielt man die Offiziersrationen, -ränge und -privilegien, und die Familie war ja groß, zwei Kinder. Man ernannte ihn zum Leiter der Politischen Abteilung einer der Bergwerksverwaltungen der Kolyma – kein geringer Posten, fast der eines Generals, und dabei mit Zukunft. Aber Nikolajew – der Familienname des Mannes von Tatjana Michajlowna war Nikolajew – war ein scharfsichtiger, gewissenhafter Mensch und keineswegs ein Karrierist. Als er die Rechtlosigkeit, die Spekulationen, die Denunziationen, den Diebstahl, die Intrigen, die Selbstbedienung, die Bestechungsgelder und Veruntreuungen von Staatseigentum und alle Grausamkeiten sah, die die Chefs an der Kolyma an den Gefangenen begehen, fing Nikolajew an zu trinken. Er sah den demoralisierenden Einfluss der menschlichen Grausamkeit, und er verurteilte sie zutiefst und entschieden. Das Leben zeigte sich ihm von den schrecklichsten Seiten, viel schrecklicher, als in den Jahren an der Front. Er war nicht bestechlich, kein Schuft. Er fing an zu trinken.
Vom Posten des Chefs der Politischen Abteilung wurde er schnell entfernt, und in kurzer Zeit – in nur zwei, drei Jahren – machte er eine Abwärts-Karriere und landete auf einer Sinekure, dem schlechtbezahlten und wenig einflussreichen Posten eines Inspektors der Kultur- und Erziehungsabteilung – des Häftlingskrankenhauses. Das Angeln wurde zu seiner erzwungenen Leidenschaft. Tief in der Tajga, am Ufer eines Flusses fühlte sich Nikolajew besser, ruhiger. Als sein Vertrag auslief, kehrte er aufs »Festland« zurück.
Tatjana Michajlowna folgte ihm nicht. Sie trat vielmehr in die Partei ein und legte den Grundstein zu ihrer Karriere. Die Kinder teilten sie auf – das Mädchen bekam der Vater, den Jungen die Mutter.
Aber all das geschah später, jetzt war Doktor Iljina die fürsorgliche und feinfühlige Leiterin unseres Lehrgangs. Sie hatte ein wenig Angst vor den Häftlingen und versuchte, möglichst wenig mit ihnen zu tun zu haben, sie hatte wohl auch noch keinen Häftling als Bedienung eingestellt.
Chirurgie – allgemeine und spezielle – las Mejerson. Mejerson war Spassokukozkij -Schüler, ein Chirurg mit großer Zukunft, einer bedeutenden wissenschaftlichen Karriere. Aber er war mit einer Verwandten Sinowjews verheiratet und wurde 1937 verhaftet und zu zehn Jahren verurteilt – als Oberhaupt einer terroristischen, antisowjetischen Sabotage-Organisation … 1946, als der Feldscherlehrgang eröffnet wurde, war er gerade aus der Haft entlassen. (Bei den allgemeinen Arbeiten hatte er nicht einmal ein Jahr arbeiten müssen – während der gesamten Haftzeit war er Chirurg.) Damals kamen die »lebenslangen Ortsbindungen« in Mode – lebenslang an den Ort gebunden war auch Mejerson. Soeben befreit – war er besonders vorsichtig, besonders offiziell, besonders unnahbar. Die zertrümmerte große Karriere und der Grimm suchten und fanden Entladung in Witzen, in Spottlust …
Seine Lektionen waren hervorragend. Zehn Jahre hatte Mejerson auf das geliebte Unterrichten verzichten müssen – Gespräche mit den Operationsschwestern während der Arbeit natürlich nicht gerechnet – zum ersten Mal sah er einen Hörsaal vor sich, »Studenten«, die Lehrgangsteilnehmer, die begierig waren, medizinische Kenntnisse zu erwerben. Und wenn die Zusammensetzung der Teilnehmer sehr bunt war – das störte Mejerson nicht. Zu Beginn waren seine Lektionen spannend, feurig. Das erste Abfragen aber verpasste dem aufgedrehten Mejerson eine kalte Dusche: die Hörerschaft war allzu schlicht: die Worte »Element« und »Form« mussten erläutert werden, ausführlich erläutert. Mejerson begriff das, er war äußerst betrübt, aber zeigte es nicht und war bemüht, sich an das Niveau anzupassen. Auszurichten hatte er sich an den letzten – an der Finnin Aino, dem Verkaufsstellenleiter Silantjew etc.
»Es bildet sich eine Fistel«, sagte der Professor. »Wer weiß, was eine Fistel ist?«
Schweigen.
»Das ist ein Loch, so ein Loch …«
Die Lektionen hatten den Glanz verloren, auch wenn sie den fachlichen Inhalt behielten.
Wie es sich für einen Chirurgen gehört, zeigte Mejerson offene Verachtung für alle anderen medizinischen Disziplinen. In seiner Abteilung hob er die Sorge des Personals um die
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