Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
an, und ich zeige dich nicht nur einfach an, sondern schreibe ein offizielles Memorandum. Ich schreibe ›der Kader-Trotzkist und Volksfeind‹, und keine Sorge – die Strafmine ist dir sicher.«
Das eigene Werk, der Lehrgang, stimmte Doktor Doktor verdrießlich. Zu viele der Teilnehmer hatten Artikel 58 – Doktor Doktor fürchtete um seine Karriere. Als typischer Verwaltungsmensch des Jahres siebenunddreißig wollte Doktor Doktor gegen Ende der vierziger Jahre den Dienst quittieren, doch als er sah, dass alles beim Alten geblieben war und man auf dem »Festland« arbeiten musste, kehrte er zurück in den Dienst an der Kolyma. Auch wenn er sich die Prämien-Zulagen neu verdienen musste, war Doktor wieder in seiner vertrauten Umgebung.
Nach einer Inspektion des Lehrgangs vor den Abschlussexamina hörte sich Doktor Doktor den Bericht über die Fortschritte der Schüler wohlwollend an, ließ seine hellblauen glasigen Augen über sämtliche Teilnehmer wandern und fragte:
»Und Schröpfköpfe können alle setzen?«
Respektvolles Gelächter von Dozenten und »Studenten« war die Antwort. Leider hatten wir ausgerechnet das Schröpfköpfe-Setzen nicht gelernt – keiner von uns hätte gedacht, dass diese einfache Prozedur ihre Geheimnisse hatte.
Augenkrankheiten unterrichtete Doktor Loskutow. Ich hatte das Glück, Fjodor Jefimowitsch Loskutow, eine der bemerkenswertesten Figuren an der Kolyma, zu kennen und ein paar Jahre mit ihm zu arbeiten. Im Bürgerkrieg Bataillonskommissar – eine Koltschak-Kugel saß für immer im linken Lungenflügel –, hatte Loskutow seine medizinische Ausbildung Anfang der zwanziger Jahre erhalten und arbeitete als Militärarzt, in der Armee. Ein zufälliger Scherz über Stalin brachte ihn vor das Kriegstribunal. Mit einer Haftstrafe von drei Jahren kam er an die Kolyma und arbeitete das erste Jahr im Bergwerk »Partisan« als Schlosser. Dann wurde er zur ärztlichen Arbeit zugelassen. Die drei Jahre gingen zu Ende. Das war eine Zeit, die an der Kolyma und in ganz Russland als »Garaninschtschina« bekannt war, auch wenn man sie besser hätte »Pawlowschtschina« nennen müssen nach dem Namen des damaligen Chefs von Dalstroj. Oberst Garanin war nur Pawlows Stellvertreter, der Chef der Lager, aber er war auch der Vorsitzende der Erschießungstrojka und unterschrieb das ganze Jahr 1938 die endlosen Listen von Erschossenen. 1938 mit Artikel 58 freigelassen zu werden war furchtbar. Allen, deren Haftzeit endete, drohte ein neues »Verfahren«, ein fabriziertes, aufgezwungenes, organisiertes. Man lebte ruhiger, wenn man ein Urteil über zehn, fünfzehn Jahre hatte, als über drei oder fünf. Man atmete leichter.
Loskutow wurde erneut verurteilt – von der »Kolyma-Trojka« mit Garanin an der Spitze –, zu zehn Jahren. Als begabter Arzt hatte er sich auf Augenkrankheiten spezialisiert, er operierte und war ein hochkarätiger Spezialist. Die Sanitätsverwaltung hielt ihn in der Nähe von Magadan, auf Kilometer dreiundzwanzig – wenn nötig, wurde er mit Begleitposten zu Konsultationen und Operationen in die Stadt Magadan gefahren. Als einer der letzten Landärzte war Loskutow ein Universalist: er konnte einfache Eingriffe in der Bauchhöhle durchführen, kannte die Gynäkologie und war Facharzt für Augenkrankheiten.
1947, als seine neue Haftzeit zu Ende ging, wurde vom Bevollmächtigten Simonowskij wieder ein Verfahren fabriziert. Im Krankenhaus wurden mehrere Feldscher und Schwestern verhaftet und zu unterschiedlichen Haftzeiten verurteilt. Loskutow selbst bekam wieder zehn Jahre. Diesmal bestand man darauf, dass er aus Magadan entfernt wurde, und überstellte ihn an das »Berlag« – ein neues, »inneres« Lager an der Kolyma für politische Rückfalltäter mit strengem Regime. Einige Jahre hatte die Krankenhausleitung Loskutow vor dem »Berlag« schützen können, aber schließlich kam er doch dorthin –
zu seiner dritten Haftzeit!
Mit Anrechnung wurde er 1954 freigelassen. 1955 wurde er für alle drei Haftzeiten vollständig rehabilitiert.
Bei seiner Freilassung hatte er eine einzige Wäschegarnitur, eine Feldbluse und eine Hose.
Als Mensch von hohen moralischen Qualitäten hatte Doktor Loskutow seine ganze ärztliche Arbeit, sein gesamtes Leben als Lagerarzt einer Aufgabe unterstellt: der aktiven beständigen Hilfe für die Menschen, vor allem die Häftlinge. Diese Hilfe war keineswegs nur eine medizinische. Ständig organisierte er etwas, empfahl jemanden für eine Arbeit nach der
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