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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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unsicher, seine blauen Augen blitzten immer seltener. Doch sonderbar – die epileptischen Anfälle wurden seltener. Die näherrückende Gefahr, die Notwendigkeit, um sein Leben zu kämpfen, drängten wohl die Anfälle beiseite.
    »Was tun?.. Sie bringen mich um.«
    »Gar nichts musst du tun. Sag nur die Wahrheit. Sag die Wahrheit aus, solange du die Kräfte hast.«
    »Du meinst also, dass nichts kommt?«
    »Im Gegenteil, ganz bestimmt kommt etwas. Anders lässt man dich hier nicht raus, Gawrjuscha. Aber Erschießung ist nicht dasselbe wie zehn Jahre Haft. Und zehn Jahre – sind nicht fünf.«
    »Verstanden.«
    Gawriil Timofejewitsch sang jetzt öfter. Und er sang wunderbar. Sein Tenor war so rein und hell. Aleksejew sang leise, in der entfernten Ecke vom »Guckloch«:
    Wie wunderschön war diese blaue Nacht
    Wie zärtlich leuchtete der bleiche Mond …
    Aber öfter, immer öfter, ein anderes:
    Macht das Fenster auf, ja das Fenster,
    Nicht mehr lange zu leben mir bleibt.
    Und entlasst mich hinaus in die Freiheit
    Gebt mir Ruhe für Liebe und Leid.
    Aleksejew brach das Lied ab, sprang auf und lief auf und ab, auf und ab.
    Er stritt sich sehr oft. Das Gefängnisleben, das Leben in der Untersuchungshaft fördert den Streit. Das muss man wissen und verstehen, man muss sich immer mäßigen oder fähig sein, sich abzulenken … Gawriil Aleksejew kannte diese Feinheiten des Gefängnisses nicht und verwickelte sich in Streit, in Schlägereien. Der eine sagte Gawriil Aleksejew etwas Verkehrtes, der andere hatte Muralow beleidigt. Muralow war Aleksejews Gott. Er war der Gott seiner Jugend, der Gott seines ganzen Lebens.
    Als Wasja Shaworonkow, Lokomotivführer aus dem Sawjolowskij Depot, etwas über Muralow sagte – im Stil der letzten Partei-Lehrbücher, stürzte sich Aleksejew auf Wasja und griff sich den Kupferkessel, aus dem in der Zelle Tee verteilt wurde.
    Dieser Teekessel, der sich noch aus der Zarenzeit im Butyrka-Gefängnis erhalten hatte, war ein riesiger Kupferzylinder. Mit Ziegel gescheuert, funkelte der Teekessel wie die untergehende Sonne. Getragen wurde dieser Kessel auf einem Stock, und wenn unsere Diensthabenden den Tee verteilten, hielten sie ihn zu zweit.
    Als Athlet, als Herkules griff Aleksejew kühn nach dem Griff des Teekessels, aber er konnte ihn nicht vom Fleck bewegen. Der Kessel war mit Wasser gefüllt – bis zum Abendessen, wenn man den Kessel heraustrug, war es noch lange hin.
    So endete auch alles in Gelächter, obwohl Wasja Shaworonkow, ganz blass, sich auf das Abwehren des Schlages eingestellt hatte. Wasja Shaworonkows Verfahren war fast dasselbe wie Gawriil Timofejewitschs. Auch ihn hatte man nach der Stunde im Politzirkel verhaftet. Der Leiter des Politzirkels hatte ihn gefragt: »Was würdest du, Shaworonkow, machen, wenn plötzlich die Sowjetmacht nicht mehr wäre?« Der treuherzige Shaworonkow hatte geantwortet: »Was heißt was? Ich würde als Lokführer im Depot arbeiten, genauso wie jetzt. Ich habe vier Kinder.« Am nächsten Tag wurde Shaworonkow verhaftet, und die Untersuchung war schon abgeschlossen. Der Lokomotivführer wartete auf das Urteil. Ihre Verfahren waren ähnlich, und Gawriil Timofejewitsch beriet sich mit Shaworonkow, und sie waren Freunde. Doch als sich die Sachlage von Aleksejews Verfahren änderte – jetzt warf man ihm ein Komplott gegen die Regierung vor –, rückte der zaghafte Shaworonkow von seinem Freund ab. Und verabsäumte nicht, eine Bemerkung über Muralow zu machen.
    –
    Gerade hatten sie Aleksejew in diesem halb komischen Handgemenge mit Shaworonkow beruhigt, als neuer Streit aufflammte. Aleksejew hatte wieder jemanden Schlaukopf genannt. Wieder zogen sie Aleksejew von jemandem fort. Die ganze Zelle wusste und hatte schon begriffen: bald musste Sie kommen. Die Kameraden liefen neben Aleksejew her, bei ihm eingehängt und bereit, jede Sekunde seine Arme und Beine zu packen und seinen Kopf zu stützen. Aber Aleksejew riss sich plötzlich los, sprang aufs Fensterbrett, klammerte sich mit beiden Händen an das Gefängnisgitter und rüttelte, rüttelte daran, fluchend und brüllend. Aleksejews schwarzer Körper hing am Gitter wie ein riesiges schwarzes Kreuz. Die Häftlinge rissen Aleksejews Finger vom Gitter, bogen ihm die Hände auf und beeilten sich, denn der Posten auf dem Turm hatte den Spektakel am offenen Fenster schon bemerkt.
    Und da sagte Aleksandr Grigorjewitsch Andrejew, der Generalsekretär der Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge,

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