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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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schwarzbärtige Weber, ein schlesischer Kommunist, Mitglied der Komintern, zur »Nachermittlung« an die Kolyma gebracht. Er weiß, was das Lager ist. Und hier Aleksandr Grigorjewitsch Andrejew, ehemaliger Generalsekretär der Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge , ein rechter Sozialrevolutionär, der die zaristische
katorga
genauso kennt wie die sowjetische Verbannung. Andrejew kennt eine Wahrheit, die den meisten unbekannt ist. Aber er kann sie nicht aussprechen. Nicht darum, weil sie ein Geheimnis wäre – sondern weil man sie nicht glauben kann. Darum schweigen Weber wie Andrejew. Das Gefängnis ist das Gefängnis. Das Untersuchungsgefängnis ist das Untersuchungsgefängnis. Jeder hat sein Verfahren, seinen Kampf, sein Verhalten, das man ihm nicht diktieren kann, seine Pflicht, seinen Charakter, seine Seele, seinen Vorrat an Seelenkräften, seine Erfahrung. Die menschlichen Eigenschaften werden nicht nur und nicht so sehr in der Gefängniszelle auf die Probe gestellt, sondern vielmehr außerhalb der Zelle, im kleinen Kabinett des Untersuchungsführers. Ein Schicksal, das von einer Kette von Zufällen abhängt, und öfter – keinesfalls von Zufällen abhängt.
    Selbst das Untersuchungsgefängnis, und nicht nur das befristete, liebt die Aufrichtigen, Offenherzigen. Aleksejew war die Zelle gewogen. Mochten sie ihn? Kann man denn in der Untersuchungszelle jemanden mögen? Sie bedeutet ja Untersuchungsverfahren, Etappe, Durchgangslager. Aleksejew war die Zelle gewogen.
    Die Wochen, die Monate vergingen, und Aleksejew wurde noch immer nicht zum Verhör gerufen. Und Aleksejew lief auf und ab, auf und ab.
    Es gibt zwei Schulen von Untersuchungsführern. Die erste ist der Ansicht, dass man den Verhafteten unverzüglich aus der Fassung bringen, betäuben muss. Der Erfolg dieser Schule fußt auf der schnellen psychologischen Attacke, dem Druck, der Niederwerfung des Willens des Untersuchungshäftlings, eher der zu sich kommt, sich umschaut, seine moralischen Kräfte zusammennimmt. Das Verhör beginnen Untersuchungsführer dieser Schule in der Nacht der Verhaftung, viele Stunden lang, mit allen möglichen Drohungen. Die andere Schule ist der Ansicht, dass die Gefängniszelle den Widerstandswillen des Verhafteten nur aufreibt, schwächt. Je länger der Verhaftete vor der Begegnung mit dem Untersuchungsführer in der Untersuchungszelle bleibt – umso vorteilhafter für den Untersuchungsführer. Der Verhaftete bereitet sich auf das Verhör vor, das erste Verhör seines Lebens, unter Anspannung aller Kräfte. Und es gibt kein Verhör. Eine Woche, einen Monat, zwei Monate lang. Alle Arbeit zur Unterdrückung der Psyche des Verhafteten nimmt die Gefängniszelle dem Untersuchungsführer ab.
    Unbekannt ist, wie die erste und die zweite Schule eine so wirksame Waffe wie die Folter einsetzen. Diese Erzählung bezieht sich auf den Anfang des Jahres siebenunddreißig, und gefoltert wurde erst ab der zweiten Jahreshälfte.
    Der Untersuchungsführer von Gawriil Timofjewitsch Aleksejew gehörte der zweiten Schule an.
    Gegen Ende des dritten Monats von Aleksejews Wanderung durch die Zelle kam eine junge Frau in Militärbluse herbeigelaufen und rief Aleksejew – »mit Initialen«, aber ohne Sachen –, also zum Verhör. Aleksejew kämmte sich die hellen Locken mit seinen fünf Fingern, rückte die bräunlich getönte Feldbluse zurecht und trat aus der Zelle.
    Vom Verhör war er schnell wieder zurück. Man hatte ihn also in dem eigenen Gebäude, dem Verhörblock, verhört und nirgends hingefahren. Aleksejew war verwundert, betroffen, getroffen, erschüttert, verschreckt.
    »Ist etwas passiert, Gawriil Timofejewitsch?«
    »Ja, es ist etwas passiert. Neues im Verhör. Sie werfen mir ein Komplott gegen die Regierung vor.«
    »Ganz ruhig, Gawrjuscha. In dieser Zelle werfen sie jedem ein Komplott gegen die Regierung vor.«
    »Ich wollte sie töten, sagen sie.«
    »Auch das kommt oft vor. Und was haben sie dir früher vorgeworfen?«
    »In Naro-Fominsk nach der Verhaftung. Ich war Chef der Feuerwache in der Textilfabrik. Kein hoher Dienstgrad also.«
    »Auf Dienstgrade wird da nicht geschaut, Gawrjuscha.«
    »Und sie haben mich über die Stunde im Politzirkel verhört. Ich hätte Muralow gelobt. Ich war ja in seiner Truppe in Moskau. Was konnte ich sagen? Und jetzt geht es plötzlich gar nicht um Muralow.«
    Die Blatternarben und Falten zeichneten sich schärfer ab. Aleksejew lächelte irgendwie absichtlich ruhig und gleichzeitig

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