Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Petrowitsch Haas. Oder einfach einen Bereitschafts-Militärarzt von irgendeinem Rang, einen Leutnant des Medizindienstes.
Einen Arzt zu rufen erwies sich als kompliziert, aber dennoch kam ein Arzt. Der Arzt erschien im Kittel über der Offiziersuniform, in Begleitung von zwei kräftigen Helfern, die wie Feldscher aussahen. Der Arzt stieg auf die Pritsche und untersuchte Aleksejew. Der Anfall war inzwischen vorbei, und Aleksejew schlief. Ohne ein Wort zu sagen oder auf eine der Fragen zu antworten, mit denen die umgebenden Häftlinge den Arzt überschütteten, ging der Arzt. Mit ihm gingen seine stummen Helfer. Das Schloss klirrte – und löste einen Sturm der Empörung aus. Und als die erste Aufregung sich gelegt hatte, öffnete sich das »Futterloch« in der Gefängnistür, der diensthabende Aufseher bückte sich, um durch das Loch schauen zu können, und sagte: »Der Arzt hat gesagt: man braucht nichts zu tun. Das ist eine Epilepsie. Seht zu, dass die Zunge nicht zurückfällt … Wenn der nächste Anfall kommt, braucht ihr ihn nicht zu rufen. Die Krankheit ist nicht heilbar.«
Die Zelle rief auch keinen Arzt mehr zu Aleksejew. Aber epileptische Anfälle hatte er noch sehr viele.
Nach den Anfällen lag Aleksejew ruhig und klagte über Kopfschmerzen. Es vergingen ein, zwei Tage, und die riesige bärenhafte Figur in der schwarzen Tuch-Feldbluse und schwarzen Tuch-Reithosen kam wieder hervorgekrochen und lief auf dem Zementfußboden der Zelle auf und ab. Wieder funkelten die blauen Augen. Nach zwei Gefängnisdesinfektionen, »Erhitzungen«, hatte das schwarze Tuch von Aleksejews Kleidung einen bräunlichen Ton und wirkte nicht mehr schwarz.
Aber Aleksejew lief auf und ab, auf und ab – und erzählte offenherzig von seinem früheren Leben, vom Leben vor der Krankheit, beeilte sich, dem jeweiligen Gesprächspartner das zu sagen, was er in dieser Zelle noch nicht ausgesprochen hatte.
»… Heute, heißt es, gibt es spezielle Vollstrecker. Aber weißt du, wie es bei Dsershinskij gehandhabt wurde?«
»Wie?«
»Wenn das Kollegium die Höchststrafe verkündet, muss das Urteil der Untersuchungsführer vollstrecken, der das Verfahren geführt hat … Der, der Beweise angeführt und die Höchststrafe gefordert hat. Du forderst die Todesstrafe für diesen Menschen? Du bist überzeugt von seiner Schuld, bist sicher, dass er ein Feind ist und den Tod verdient hat? Töte ihn von eigener Hand. Das ist ein sehr großer Unterschied, ein Papier zu unterzeichnen, das Urteil zu bestätigen – oder selbst zu töten …«
»Ein sehr großer …«
»Außerdem musste jeder Untersuchungsführer selbst auch Zeit und Ort für diese seine Dinge finden … Das war unterschiedlich. Der eine in seinem Kabinett, der andere im Korridor, in irgendeinem Keller. All das bereitete der Untersuchungsführer unter Dsershinskij selbst vor … Da überlegst du es dir tausend Mal, ehe du für einen Menschen den Tod verlangst …«
»Gawrjuscha, und hast du Erschießungen gesehen?«
»Na, schon. Wer hat sie nicht gesehen.«
»Und stimmt es, dass der, der erschossen wird, aufs Gesicht fällt?«
»Ja, das stimmt. Wenn er dich anschaut.«
»Und wenn man von hinten schießt?«
»Dann fällt er auf den Rücken, nach hinten.«
»Hast du selbst auch … So …«.
»Nein, ich war nicht Untersuchungsführer. Ich habe ja keine Bildung. Ich war einfach in der Abteilung. Habe das Banditentum bekämpft und so weiter. Und dann diese Krankheit bekommen, und sie haben mich demobilisiert. Als Epileptiker. Und zu trinken habe ich angefangen. Das ist der Genesung, heißt es, auch nicht förderlich.«
Das Gefängnis mag keine Schlauberger. In der Zelle ist jeder vierundzwanzig Stunden am Tag vor aller Augen. Der Mensch hat nicht die Kraft, seinen wahren Charakter zu verbergen – so zu tun, als wäre er ein anderer, als er ist, in der Untersuchungszelle des Gefängnisses, in Minuten, Stunden, Tagen, Wochen und Monaten der Anspannung und der Nervosität, in denen alles Überflüssige, Vorgespielte wie Schuppen von den Menschen abfällt. Und es bleibt die Wahrheit – nicht vom Gefängnis hervorgebracht, doch geprüft und erprobt vom Gefängnis. Der Wille, noch nicht gebrochen, noch nicht unterdrückt, wie es im Lager fast zwangsläufig geschieht. Doch wer dachte damals an das Lager, daran, was das Lager ist. Einige wussten es vielleicht und hätten gern vom Lager erzählt, den Neuling gewarnt. Aber der Mensch glaubt das, was er glauben will.
Hier sitzt der
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