Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
bei kleinen Fehlern zu ertappen, sondern darin, jenes Große zu sehen – und den anderen zu zeigen! –, das hinter diesen Kleinigkeiten stand, jenen »Hintergrund« der Hungerauszehrung, der das Bild der Krankheit verändert, die der Arzt aus dem Lehrbuch kennt. Das Lehrbuch der Häftlingskrankheiten war noch nicht geschrieben. Es wurde niemals geschrieben.
Die Erfrierungen im Lager erschüttern die vom »Festland« angereisten Frontchirurgen. Brüche werden gegen den Willen der Kranken behandelt. Um in die Tuberkuloseabteilung zu kommen, tragen die Kranken fremden »Rotz« bei sich und nehmen offensichtlich bazillenverseuchtes Gift in den Mund vor der Analyse bei der Aufnahme. Die Kranken mischen Blut in ihren Urin und ritzen dafür zumindest den eigenen Finger, um ins Krankenhaus zu kommen, um wenigstens für einen Tag, wenigstens für eine Stunde dem Schrecklichsten zu entrinnen, das es in der Haft gibt – der mörderischen und erniedrigenden Arbeit.
Umanskij, wie alle Kolymaveteranen unter den Ärzten, wusste, billigte und verzieh all das. Das Lehrbuch der Häftlingskrankheiten war nicht geschrieben.
Umanskij hatte seine medizinische Ausbildung in Brüssel erhalten, während der Revolution kehrte er nach Russland zurück, wohnte in Odessa und praktizierte …
Im Lager begriff er, dass man mit ruhigerem Gewissen Tote seziert als die Lebenden behandelt. Umanskij wurde Leiter des Leichenhauses, Pathologe.
Als siebzigjähriger, noch nicht gebrechlicher Mann mit wackelnden Prothesen an Ober- und Unterkiefer, mit silbernem Kopf, kurzgeschoren nach Häftlingsart, kam der stupsnasige Spaßvogel in die Klasse.
Für die Lehrgangsteilnehmer hatte seine Lektion besondere Bedeutung. Nicht, weil es die erste Lektion war, sondern weil von jetzt an, mit dem ersten Wort von Doktor Umanskij, der Lehrgang zu leben begann, tatsächlich und ernsthaft, wie märchenhaft das den Lehrgangsteilnehmern auch erschien. Die Zeit der Aufregungen war vorbei. Die Entscheidung über die Einrichtung des Lehrgangs war gefallen. Für viele würde es niemals wieder die aufreibende Arbeit in den Goldbergwerken, den täglichen Kampf ums Leben geben. Der Unterricht hatte begonnen mit dem Vortragszyklus »Anatomie und Physiologie des Menschen« von Professor Umanskij.
Der silberköpfige alte Mann im geöffneten Halbpelz, einem schwarzen, schäbigen Halbpelz – im Halbpelz, nicht in einer Wattejacke wie wir –, trat an die Tafel und nahm das riesige Kreidestück in seine kleine Faust. Die zerdrückte Ohrenklappenmütze warf der Professor auf den Tisch – es war April, es war noch kalt.
»Zum Beginn meines Vortrags spreche ich vom Aufbau der Zelle. Heute wird in der Wissenschaft viel diskutiert …«
Wo? Was wird diskutiert? Das zurückliegende Leben aller dreißig Lehrgangsteilnehmer – vom Untersuchungsführer bis zum Verkäufer im Dorfladen – war dem Leben jeder Wissenschaft sehr fern … Das frühere Leben der Lehrgangsteilnehmer war uns ferner als das Leben nach dem Tod – davon war jeder Lehrgangsteilnehmer überzeugt … Was hatten sie zu tun mit irgendwelchen Diskussionen in irgendeiner Wissenschaft? Und was war das für eine Wissenschaft? Anatomie? Physiologie? Biologie? Mikrobiologie? Kein einziger Lehrgangsteilnehmer hätte an jenem Tag sagen können, was das war, »Biologie«. Jene Teilnehmer, die gebildeter waren als die anderen, hatten genug gehungert, um jedes Interesse an Diskussionen in irgendeiner Wissenschaft zu verlieren …
»… in der Wissenschaft viel diskutiert. Heute ist es üblich, diesen Teil des Lehrgangs anders darzustellen , aber ich erzähle es Ihnen so, wie ich es für richtig halte. Ich habe mit Ihrer Verwaltung abgesprochen, dass ich diese Abteilung auf meine Weise darstellen werde.«
Andrejew versuchte, sich die Verwaltung vorzustellen, mit der sich der Brüsseler Professor abgesprochen hat. Der Krankenhauschef, der bei der Aufnahmeprüfung jeden Lehrgangsteilnehmer mit dem scharfen Blick des Wachmanns durchbohrt hatte. Oder der nach Alkohol riechende, hicksende, rotnasige stellvertretende Chef der Sanitätsabteilung. Darüber hinaus konnte sich Andrejew keinerlei höhere Verwaltung ausdenken oder vorstellen.
»Diese Abteilung werde ich auf meine Weise darlegen. Und vor Ihnen möchte ich meine Meinung nicht verbergen.«
»Meine Meinung nicht verbergen«, wiederholte Andrejew flüsternd, begeistert von diesen ungewöhnlichen Worten aus einer ungewöhnlichen Wissenschaft.
»Ich möchte meine Meinung
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