Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
nicht verbergen. Ich bin Weismannianer, meine Freunde …«
Umanskij machte eine Pause, damit wir seine Kühnheit und sein Feingefühl ermessen konnten.
Weismannianer? Das war den Lehrgangsteilnehmern vollkommen egal.
Niemand von den dreißig Anwesenden wusste und hat je erfahren, was eine Mitose und was Nukleoproteinfäden sind – Chromosomen, die Desoxyribo-Nuklein-Säure enthalten.
Für die Desoxyribo-Nuklein-Säure interessierte sich auch die Krankenhausverwaltung nicht.
Aber es vergingen ein, zwei Jahre, und das gesamte gesellschaftliche Leben wurde kreuz und quer von den dunklen Strahlen einer biologischen Diskussion durchschnitten, und das Wort »Weismannianer« war für Untersuchungsführer mit mittlerer juristischer Bildung und gewöhnliche, den Stürmen der politischen Repressionen unterworfene Menschen verständlich genug. »Weismannianer« klang jetzt bedrohlich, klang jetzt unheilschwer, wie der wohlbekannte »Trotzkist« und »Kosmopolit« .
Eben damals, ein Jahr nach der biologischen Diskussion, erinnerte sich Andrejew und wusste die Kühnheit und das Feingefühl des alten Umanskij zu schätzen.
–
Dreißig Bleistifte zeichneten in dreißig Hefte die vorgestellten Chromosomen. Und eben dieses Heft mit den Chromosomen erregte auch den besonderen Grimm des Bären.
Nicht nur mit den geheimnisvollen Chromosomen, nicht nur mit den nachsichtigen und klugen »Sektionen« hatte sich Umanskij Andrejew eingeprägt.
Am Ende des Lehrgangs, als die Rekruten der Medizin schon den weißen Feldscherkittel an sich spürten, der die Mediziner von den gewöhnlichen Sterblichen abhob, trat Umanskij wieder mit einer sonderbaren Erklärung hervor:
»Ich werde Ihnen nicht die Anatomie der Geschlechtsorgane lesen. Ich habe mich mit Ihrer Verwaltung abgesprochen. Für die früheren Jahrgänge wurde dieser Teil gelesen. Gutes ist dabei nicht herausgekommen. Lieber widme ich diese Stunden der therapeutischen Praxis – dann lernen Sie wenigstens Schröpfköpfe setzen.«
So erhielten die Lehrgangsteilnehmer ihre Diplome, ohne eine wichtige Abteilung der Anatomie durchgenommen zu haben. Aber war es nur das, was die künftigen Feldscher nicht wussten?
Ein, zwei Monate nach Beginn des Lehrgangs, als es gelungen war, den ewig nagenden Hunger niederzukämpfen, zu betäuben, abzustellen, und Andrejew sich schon nicht mehr auf jede Kippe stürzte, die er auf dem Weg, der Straße, der Erde, dem Fußboden sah, und in Andrejews Gesicht neue – oder die alten? – menschliche Züge hervortraten und sein Blick selbst, nicht nur die Augen, menschlicher wurde, war Andrejew zum Teetrinken zu Professor Umanskij geladen.
Der Tee war richtiger Tee. Brot und Zucker gab es nicht dazu, und Andrejew hatte so ein Teetrinken – mit Brot – auch nicht erwartet. Der Tee war ein abendliches Gespräch mit Professor Umanskij, ein Gespräch im Warmen, ein Gespräch unter vier Augen.
Umanskij wohnte im Leichenhaus, in der Amtsstube des Leichenhauses. Eine Tür zum Seziersaal war nicht vorhanden, und der Seziertisch, übrigens mit einem Wachstuch bedeckt, war aus allen Ecken von Umanskijs Zimmer zu sehen. Eine Tür zum Seziersaal gab es nicht, aber Umanskij hatte sich an alle Gerüche der Welt gewöhnt und benahm sich so, als gäbe es eine Tür. Andrejew war nicht gleich klar, was eigentlich das Zimmer zum Zimmer machte, doch dann begriff er, dass sein Dielenboden einen halben Meter über dem Boden des Seziersaals lag. Die Arbeit war beendet, und Umanskij hatte auf seinem Arbeitstisch die Photographie einer jungen Frau aufgestellt, eine Photographie in einem Blechrahmen, hinter grobem und unregelmäßigem grünlichen Fensterglas. Das private Leben von Professor Umanskij begann auch mit dieser abgestimmten routinierten Bewegung. Die Finger der rechten Hand griffen unter die Schublade, zogen die Schublade auf und stützten sie gegen den Bauch des Professors. Mit der linken Hand holte Umanskij die Photographie hervor und stellte sie vor sich auf den Tisch …
»Ihre Tochter?«
»Ja. Wenn es ein Sohn wäre, wäre es viel schlimmer, nicht wahr?«
Was für einen Häftling den Unterschied zwischen einem Sohn und einer Tochter ausmachte, verstand Andrejew gut. Aus den Schubladen – wie sich zeigte, waren es sehr viele Schubladen – zog der Professor zahllose von Papierrollen geschnittene Blätter hervor, zerknüllt, zerschlissen, in Spalten liniert, eine Menge Spalten, eine Menge Zeilen. In jedes Kästchen war in Umanskijs kleiner Schrift ein
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